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Sonntag, 18. Januar 2004
hochTIEF: Erfahrungen eines Volontärs
herr denes, 15:05Uhr
Von Feuerbachstraße bis Griebnitzsee bin ich ein Star. Der Moderator, der schon bald einen Sender aus dem Quotenloch holen wird. Den der Chefredakteur fast genauso gerne als Reporter einsetzen würde, weil er dadurch viele Journalistenpreise auf sein Konto verbuchen könnte. Der Star, weil ich von den Hörern geliebt werde. Sie würden einen schlechten Tag haben, wenn ich einmal nicht wie geplant auf Sendung gehen würde. Von Feuerbachstraße bis Griebnitzsee fahre ich zur Arbeit – und bin definitiv ein Star.
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hochTIEF: Erfahrungen eines Volontärs
herr denes, 15:02Uhr
Von Feuerbachstraße bis Griebnitzsee bin ich ein Star. Der Moderator, der schon bald einen Sender aus dem Quotenloch holen wird. Den der Chefredakteur fast genauso gerne als Reporter einsetzen würde, weil er dadurch viele Journalistenpreise auf sein Konto verbuchen könnte. Der Star, weil ich von den Hörern geliebt werde. Sie würden einen schlechten Tag haben, wenn ich einmal nicht wie geplant auf Sendung gehen würde. Von Feuerbachstraße bis Griebnitzsee fahre ich zur Arbeit – und bin definitiv ein Star.
Von Griebnitzsee bis Feuerbachstraße bin ich oft genug ein Niemand. Unfertig und mit dem Hang, das bisschen Talent zu verschwenden, das ich mitbringe. Ein namenloser Wasserträger für die Sendeprominenz – ja noch schlimmer ein tüchtiger, grundsolider Verwechselbarer. Einer, der nach drei Jahren immer noch nicht selbst vors Mikrophon gelassen wird, der immer nur zurückhängt. Einer, dem man auf die Schulter klopft, wenn er wieder die Drecksarbeit gemacht hat. Einer, der sich mit 40 endlich mal eine Fernreise gönnt und gesetzlich krankenversichert ist.
Von Feuerbachstraße bis Griebnitzsee erinnere ich mich an gute Journalisten, die mir gesagt haben: „Aus dir wird noch einmal was!“ (Damals noch mit großem „Dir“, denn so lange ist es her, dass ich das gehört habe.) Zwischen Rathaus Steglitz und Lichterfelde West fällt mir ein, dass ich das inzwischen deswegen nicht mehr höre, weil etwas aus mir geworden ist. Bis Zehlendorf konzipiere ich dann meine Talkradio-Show, den Blue Moon auf Fritz, der zum Nachfolger für die „Harald-Schmidt-Show“ geworden ist und von allen ARD-Hörfunk-Magazinwellen gesendet wird.
Von Griebnitzsee bis Feuerbachstraße lese ich die Zettel, auf denen ich die Anregungen meiner Lehrer notiere. Es sind zwei Mal halbierte DIN A 4-Blätter mit einem senkrechten Strich. Auf die linke Seite schreibe ich „gut“ und auf die rechte „schlecht“. 12 Stichpunkte passen auf eine Hälfte, deswegen muss ich häufig das Feld „schlecht“ größer ziehen. Von Wannsee bis Mexikoplatz erkenne ich, dass meine Kritiker recht hatten, dass meine Rechtfertigungen falsch waren. Ich frage mich, wieso mir heutzutage der verhasste Studentenjob als so reizvoll erscheint.
Von Feuerbachstraße bis Griebnitzsee fahre ich zur Arbeit. Das hatten wir schon, auch, dass ich da ein Star bin. Ich höre Musik mit schweren Gitarren und spiele dabei selbst. Ich bin Moderator, Rockstar, Grimmepreisträger und gebe inzwischen selbst Interviews. Ich antizipiere von Schlachtensee an die Kritik meiner Neider, um gedanklich die Sätze zu formen, auf die sich mein Ruf gründet, äußert schlagfertig zu sein.
Von Griebnitzsee bis Feuerbachstraße bin ich ein müder Arbeiter auf dem Weg in den Feierabend. Ich lese das Fernsehprogramm und frage mich, bei welchem Prime-Time-Angebot ich am sanftesten einschlafen werde. Ich denke an Bier, an ein warmes Essen und meine Freundin, die mich erwartet. Ich denke an die warmen Tage, an denen man sich sogar in einem Berliner Freiluftkino wie am Mittelmeer fühlt. Ich denke an meinen arbeitslosen Kumpel, der mir immer sagt, wie viel Glück ich hatte.
Vor einigen Tagen habe ich einen alten Vorgesetzten am Bahnhof Griebnitzsee getroffen. „Beim Radio biste jetzte!“, hat er gesagt und: „Na also, Kleener. Ick hab dir imma jesagt: ‚Aus Dir wird noch mal wat!’“
Von Griebnitzsee bis Feuerbachstraße bin ich oft genug ein Niemand. Unfertig und mit dem Hang, das bisschen Talent zu verschwenden, das ich mitbringe. Ein namenloser Wasserträger für die Sendeprominenz – ja noch schlimmer ein tüchtiger, grundsolider Verwechselbarer. Einer, der nach drei Jahren immer noch nicht selbst vors Mikrophon gelassen wird, der immer nur zurückhängt. Einer, dem man auf die Schulter klopft, wenn er wieder die Drecksarbeit gemacht hat. Einer, der sich mit 40 endlich mal eine Fernreise gönnt und gesetzlich krankenversichert ist.
Von Feuerbachstraße bis Griebnitzsee erinnere ich mich an gute Journalisten, die mir gesagt haben: „Aus dir wird noch einmal was!“ (Damals noch mit großem „Dir“, denn so lange ist es her, dass ich das gehört habe.) Zwischen Rathaus Steglitz und Lichterfelde West fällt mir ein, dass ich das inzwischen deswegen nicht mehr höre, weil etwas aus mir geworden ist. Bis Zehlendorf konzipiere ich dann meine Talkradio-Show, den Blue Moon auf Fritz, der zum Nachfolger für die „Harald-Schmidt-Show“ geworden ist und von allen ARD-Hörfunk-Magazinwellen gesendet wird.
Von Griebnitzsee bis Feuerbachstraße lese ich die Zettel, auf denen ich die Anregungen meiner Lehrer notiere. Es sind zwei Mal halbierte DIN A 4-Blätter mit einem senkrechten Strich. Auf die linke Seite schreibe ich „gut“ und auf die rechte „schlecht“. 12 Stichpunkte passen auf eine Hälfte, deswegen muss ich häufig das Feld „schlecht“ größer ziehen. Von Wannsee bis Mexikoplatz erkenne ich, dass meine Kritiker recht hatten, dass meine Rechtfertigungen falsch waren. Ich frage mich, wieso mir heutzutage der verhasste Studentenjob als so reizvoll erscheint.
Von Feuerbachstraße bis Griebnitzsee fahre ich zur Arbeit. Das hatten wir schon, auch, dass ich da ein Star bin. Ich höre Musik mit schweren Gitarren und spiele dabei selbst. Ich bin Moderator, Rockstar, Grimmepreisträger und gebe inzwischen selbst Interviews. Ich antizipiere von Schlachtensee an die Kritik meiner Neider, um gedanklich die Sätze zu formen, auf die sich mein Ruf gründet, äußert schlagfertig zu sein.
Von Griebnitzsee bis Feuerbachstraße bin ich ein müder Arbeiter auf dem Weg in den Feierabend. Ich lese das Fernsehprogramm und frage mich, bei welchem Prime-Time-Angebot ich am sanftesten einschlafen werde. Ich denke an Bier, an ein warmes Essen und meine Freundin, die mich erwartet. Ich denke an die warmen Tage, an denen man sich sogar in einem Berliner Freiluftkino wie am Mittelmeer fühlt. Ich denke an meinen arbeitslosen Kumpel, der mir immer sagt, wie viel Glück ich hatte.
Vor einigen Tagen habe ich einen alten Vorgesetzten am Bahnhof Griebnitzsee getroffen. „Beim Radio biste jetzte!“, hat er gesagt und: „Na also, Kleener. Ick hab dir imma jesagt: ‚Aus Dir wird noch mal wat!’“
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Zu wahr
herr denes, 13:50Uhr
5 Ereignisse, die keine Nachricht geworden sind:
Ein Fahrgast im Bus, der hinter anderen Passagieren sitzt und minutenlang: „Hmm, hmmm, Ja, Hmm, Ja, Ja, Hmm, Nee ne, Hmmm, HmHm, Ja“ sagt, um dann vor dem Auszusteigen zu sagen, er habe gar kein Telefon.
Wie aus gewöhnlich gut unterrichteter Quelle verlautet, versuchte in der vergangenen Woche ein wohlsituierter Baumonteur einem Golfclub beizutreten.
Insider behaupten, die Stadt Brüssel arbeite an einer neuen Verkehrstechnologie, bei der die Autos stehen blieben und nur noch die Straßen über rolltreppenartige Mechaniken bewegt würden. Man wolle sich vom Öl unabhängig machen.
Ein Justiziar hat vorgestern Avocados gegessen und dabei über seine Berufswahl nachgedacht.
Zahntechnikerinnen, die ihren diesjährigen Betriebsausflug nach Köln machen, nehmen einzeln Stripsequenzen für das Nachtprogramm eines deutschen Privatsenders auf.
Ein Fahrgast im Bus, der hinter anderen Passagieren sitzt und minutenlang: „Hmm, hmmm, Ja, Hmm, Ja, Ja, Hmm, Nee ne, Hmmm, HmHm, Ja“ sagt, um dann vor dem Auszusteigen zu sagen, er habe gar kein Telefon.
Wie aus gewöhnlich gut unterrichteter Quelle verlautet, versuchte in der vergangenen Woche ein wohlsituierter Baumonteur einem Golfclub beizutreten.
Insider behaupten, die Stadt Brüssel arbeite an einer neuen Verkehrstechnologie, bei der die Autos stehen blieben und nur noch die Straßen über rolltreppenartige Mechaniken bewegt würden. Man wolle sich vom Öl unabhängig machen.
Ein Justiziar hat vorgestern Avocados gegessen und dabei über seine Berufswahl nachgedacht.
Zahntechnikerinnen, die ihren diesjährigen Betriebsausflug nach Köln machen, nehmen einzeln Stripsequenzen für das Nachtprogramm eines deutschen Privatsenders auf.
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Ein idealer Sündenbock
herr denes, 13:42Uhr
Eine ältere Kurzgeschichte. Ich habe sie gemocht, die Welt nicht.
Meine Lebensgefährtin sagt oft zu mir: „Du bist der ideale Sündenbock!“ Wenn sie das tut, antworte ich ihr meistens, nein immer: „Ich bin vielleicht ein idealer Sündenbock, aber nicht der. Denn das würde ja bedeuten, daß ich davon der Einzige auf der Welt bin und soweit reicht mein Einfluß doch nicht.“ In der Chronologie dieses repetitiven Dialogs folgt dann ein Lächeln und ein tröstendes Tätscheln meiner Freundin, eine Kombination, für die ich sie hasse.
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Meine Lebensgefährtin sagt oft zu mir: „Du bist der ideale Sündenbock!“ Wenn sie das tut, antworte ich ihr meistens, nein immer: „Ich bin vielleicht ein idealer Sündenbock, aber nicht der. Denn das würde ja bedeuten, daß ich davon der Einzige auf der Welt bin und soweit reicht mein Einfluß doch nicht.“ In der Chronologie dieses repetitiven Dialogs folgt dann ein Lächeln und ein tröstendes Tätscheln meiner Freundin, eine Kombination, für die ich sie hasse.
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Ein idealer Sündenbock
herr denes, 13:37Uhr
Eine ältere Kurzgeschichte. Ich habe sie gemocht, die Welt nicht.
Meine Lebensgefährtin Ulrike sagt oft zu mir: „Du bist der ideale Sündenbock!“ Wenn sie das tut, antworte ich ihr meistens, nein immer: „Ich bin vielleicht ein idealer Sündenbock, aber nicht der. Denn das würde ja bedeuten, daß ich davon der Einzige auf der Welt bin und soweit reicht mein Einfluß doch nicht.“ In der Chronologie dieses repetitiven Dialogs folgt dann ein Lächeln und ein tröstendes Tätscheln meiner Freundin, eine Kombination, für die ich sie hasse. Diese wiederkehrende Reaktion zeigt mir, daß mich Ulrike nicht versteht. Für sie ist immer alles nur halbgar, diese Art von Spaß, die man an einem Rädchen anstellen, aufdrehen und nach Belieben auch wieder abstellen kann. Das ist aber keineswegs nur Ulrikes Problem, sonst wäre ich ja wohl kaum mit ihr zusammen. Diesen individuellen Spaß realisieren die meisten Menschen, die nicht zum Sündenbock dienen. Daraus erwächst natürlich die Frage, was jemanden wie mich zu einem Sündenbock macht.
Ich will diese Frage jetzt noch nicht beantworten, ich könnte es, ich würde es liebend gerne tun. Aber Sie würden die Antwort nicht ernst nehmen, weil Sie höchstwahrscheinlich auch zur Gattung der Am-Rädchen-Dreher gehören. Ich möchte Ihnen lieber zuerst vorstellen, woran ich Schuld bin. Aufzählen, welche Umstände nur deswegen auftreten, weil ich eine Sünde begangen habe. Es sind viele ganz banale dinge darunter: Wenn die junge Mutter am U- Bahnhof den Kinderwagen wieder ganz alleine die 72 Stufen hoch tragen muß, weil der Lift, für den die Stadtwerke eine Fahrpreiserhöhung von 2% durchgeführt haben, einmal mehr kaputt ist und weil die zwei bis fünf kräftigen Männer, die das Elend der schleppenden Frau mit ansehen, nicht auf die Idee kommen, ihre Hilfe anzubieten, dann bin ich daran schuld. Wenn der freundliche Mann in der Imbißbude dreimal nachfragt, ob der Kunde lieber Senf oder Ketchup auf seine entdärmte Bratwurst möchte und schlußendlich doch zur falschen Tube greift und in Folge der Beschwerde eben dieses Kunden, der ein Kreispolitiker mit erheblichem Einfluß auf das Konzessionsamt ist, den Job verliert, der nicht nur ihn, seine Frau und seine drei Töchter über Wasser gehalten hat, sondern die auch letzte Hoffnung seiner am grauen Star leidende Mutter auf die beinahe unbezahlbare Augenoperation war, dann habe ich daran meinen schuldigen Anteil. Ich bin auch schuld daran, daß zwei böse Knaben im Tierpark einen mit Glassplittern gepflückten Apfel an das süße, kleine Äffchen verfüttern, das daraufhin erbärmlich zugrunde geht, nur weil den Jungs langweilig war. Am Wasserschaden an der frisch gestrichenen Decke Ihrer Bekannten, ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern, ist nämlich schon ein Weilchen her, bin ich auch schuld. Als letztes Jahr die Straßenbahn dieser talentierten Nachwuchs- Eiskunstläuferin in Amerika den linken Fuß abtrennte, geschah dies nicht ohne mein Zutun. Ich bin genauso daran schuld, daß die Ampelphasen in Ihrer Stadt so idiotisch geschaltet sind, daß Sie mit dem Auto genauso lange zur Arbeit brauchen, als wenn Sie den Bus nehmen würden. Wenn ein unschuldiger Mensch von brutalen, skrupellosen Verbrechen ausgeraubt, verletzt oder sogar um sein Leben gebracht wird, muß ich mich dafür verantwortlich fühlen. „Du Schaf!“, sagt Ulli zu mir. Verzeihen Sie, „Ulli“ rufe ich manchmal meine Freundin, das ist dann immer recht liebevoll gemeint, sozusagen mein Verständnis von Zärtlichkeit. Sie sagt das, wenn sie meint, ich würde mich wieder zu wichtig nehmen. Für mich ist es schrecklich, wenn sie das sagt, denn dann werde ich wieder schmerzlich daran erinnert, daß Schafe meinetwegen Bauchschmerzen bekommen, wenn sie zuviel Klee fressen. Wenn der Wetterbericht zum hundertsten Male nicht stimmt und sich deswegen Tausende Menschen erkälten, im Grunde bei jeder Erkältung, bei jedem vollgerotztem Taschentuch, das ich um mich herum sehe, weiß ich: Das warst Du! Wenn beim Lotto ein Vorstandsvorsitzender gewinnt, wenn die Steuerfahndung einen Existenzgründer verhaftet, wenn die Bügelfalte schon beim dritten Waschen verschwindet, wenn zwei identische Geschenke für eine Person unter der nadelnden Tanne liegen, wenn der Stein in den Corn- Flakes den Schneidezahn entzweit, wenn eine Schlaftablette schon die Überdosis ist, wenn im Seminarraum eine schulterfrei gekleidete Frau sitzt, die den anderen fünfundzwanzig Insassen über eine Geheimsprache mitteilt, daß sie nicht viel von Deodoranten hält, wenn ein Liebesbrief zum Beweisstück Nr. 23E in einem Indizienprozeß wird, wenn der Schiedsrichter für zwei Mal Trikotzupfen gelb- rot gibt, wenn beim Lohnsteuer- Jahresausgleich der erträumte Betrag auf dem Steuerbescheid nur den Makel eines kurzen waagerechten Striches vor sich hat, wenn man beim Verzehr des besten Rumpsteaks seit langem im Radio hört, daß Rindvieh schizophren und paranoid sein kann, wenn die achtlos vom Mitbewohner liegengelassene Seife in der Duschkabine zur tödlichen Falle wird, dann ist das jeweils meine Schuld.
Ich hoffe, daß Sie jetzt in Ansätzen die Reichweite meines Einflusses erkennen können. Das hat aber nichts mit Geltungsbedürfnis zu tun, wie Ulli manchmal behauptet. Ich bin nicht machtbegierig und halte mich nicht für Gott. Ich habe nur gesündigt. Ein einziges Mal, vor 37 Jahren. In Lebenstedt, einem Ortsteil von Salzgitter. Diese einzige Sünde, gewissermaßen meine Lebensschuld, hat mich verdammt, auf alle Ewigkeit. Ich will nicht klagen darüber, denn meine Mutter und Achim, der Kegelkumpan meines Vaters haben mich gewarnt. Achim sagte mir: „Wenn Du darüber sprichst, wird ein Unglück geschehen!“ In manchen Momenten überlege ich mir, daß bei genauer grammatikalischer Interpretation von Achims Prophezeiung tatsächlich nur ein Unglück hätte geschehen dürfen, nachdem ich darüber geredet hatte. Aber grundsätzlich darf ich darüber nicht klagen oder winseln. Mein Vater hatte zu mir gesagt: „Wenn Du ´nen Apfel beim Obststand einsteckst, gehst Du dann herum und posaunst es aus?“ ganz ruhig hat er das zu mir gesagt, obwohl ich gezittert habe. Mein Vater war schon ein besonnener Mann. ‚Der hat recht!‘, dachte ich mir, wenigstens die ersten Male. Achim hat meinen Vater in der Folge immer wieder argumentativ unterstützt: „Unter Männern gilt: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold! Ist doch toll, jetzt kannst Du beweisen, daß Du ein echter Kerl bist.“ Achim war schon ein wenig emotionaler, eben nicht ganz so besonnen wie mein Vater, aber auch er konnte überzeugen. Er hatte immer so einen Nachdruck in der Stimme und dieses Bäuchlein, was einen Mann erst so richtig zu einer Respektsperson machte. Hätte ich nur auf Achim gehört. Sie haben es mir doch so oft gesagt: „Junge, halte still, dann geht alles gut.“ Sie verdeutlichten mir, daß es eine Ehre für mich war, Geheimnisträger zu sein, nur ich und kein anderer aus der Familie. Dabei war ich nie der Beliebteste, nicht zu Hause, nicht in der Schule und nicht im Turnverein. Mein Vater und Achim haben mir aber vertraut. Das war doch nichts Großes, was sie da von mir verlangt haben, nur Schweigen. Schweigen ist sozusagen Nichtstun, das ist doch normalerweise ganz einfach. Nicht daß ich ein Faulpelz gewesen wäre, das bin ich bis heute nicht. Vielleicht war es ja genau das, ich konnte nicht stillhalten, denke ich bis heute manchmal. Aber sehr überzeugend scheint mir diese Begründung nicht, denn ich habe ja lange stillgehalten, fast drei Jahre und geredet habe ich insgesamt zwei Mal. Achim sagte ein paar Mal zu mir: „Alle großen Politiker der Geschichte war auch große Schweiger!“ Ich entgegnete dann immer etwas trotzig, daß ich aber gar nicht Politiker werden wolle, sondern irgend etwas im Amt. Das ist schon lustig, da habe ich auch wirklich recht behalten. Stellen Sie sich das einmal vor, meine Schuld, mein Fehler und dann geht mein Traum in Erfüllung. Dabei bin ich selbst am Arbeitsplatz nicht von meiner Sünde erlöst: Frau Wieczorek hat neulich ihren Pott Kaffee ausgeschüttet, normalerweise hätte das ein paar Flecken und ein ordentliches Fluchen hervorgerufen. In ihrem Falle war das Fluchen ein Schrei und die Flecken waren drei Zentimeter verbrannter Handfläche. Dann wurde sie ins Krankenhaus gefahren, wo die Ärzte Haut von ihrem Oberschenkel auf die Hand transplantierten. Das führte zu einem Abszeß, der Frau Wieczorek ihr Bein gekostet hat. Und warum? Weil ich nicht auf Achim und meinen Vater gehört habe. Als hätten die Beiden mich nicht für mein Schweigen belohnt: Anziehsachen haben sie mir gekauft, monatlich neue. Die durfte ich dann zwar nie in der Schule anziehen, sondern nur, wenn ich mit den beiden zusammen war, aber die Sachen war sehr ausgefallen und bestimmt nicht billig. Mein Vater hatte ja auch genug Geld, als Richter verdiente er immer sehr gut. Was Achim beruflich machte wußte ich nicht, er erzählte mir bei jeder Gelegenheit, er wäre Profi- Kegler. Er dachte, daß ich ihm das nicht glauben würde, aber es schien mir plausibel. Die Beiden haben mir auch immer Süßigkeiten spendiert, was ich wollte, bekam ich. Hätte ich es ihnen doch nur gedankt! „Wer schweigt, der bleibt!“, das war ihr Motto. Ich wollte schweigen, nicht weil ich unbedingt bleiben wollte, sondern weil ich wußte, daß das in dieser Zeit meine Aufgabe war. Das ist doch so, heutzutage fragen alle nur noch nach rechten, nach Freizeit, nach Urlaubstagen, nach fun- fun- fun, nach Rollerblades und langen Wochenenden, nach Lohnerhöhungen und Arbeitszeitsenkungen, sie wollen Gleichberechtigung und sind doch die größten Treter. Mit welchem Recht? Wer fragt denn nach den Pflichten, nach der Daseinsberechtigung, nach Anstrengungen und besonderen Verdiensten? Ich tue das schon, gebe mir die größte Mühe, ein guter Mensch und Bürger zu sein, aber ich bin zu spät dran. Ich habe es mir verscherzt, weil ich nicht schweigen konnte. Das tut schon weh, wenn ich dümmliche, oberflächliche und in Herden lebende Mitmenschen betrachte, die nur deswegen unschuldig geblieben sind, weil sie geschwiegen haben. Und weshalb haben sie geschwiegen? Vermutlich, weil sie nichts hatten, über das sie reden konnten. Da gibt es dieses englische Sprichwort: Happy people have no stories. Ich hatte eine Geschichte, war ich vielleicht deswegen unglücklich? Das Imperfekt ist schlecht gewählt, denn unglücklich bin ich heute mehr denn je. Wären Sie nicht betrübt, wenn Sie wüßten, daß jeder dritte Rollstuhlfahrer in der Fußgängerzone nur Ihretwegen querschnittsgelähmt ist? Wenn Ihnen bewußt wäre, daß die gestreßte Mutter im überfüllten Gelenkbus ihrer Tochter auf der Plattform eine langt, weil Sie mit im Bus sitzen? Wenn sie schuld daran wären, daß viele Leute, darunter auch Notfallchirurgen und Polizisten zu spät zur Arbeit kämen, weil eine Störung am Sendemast viele Funkwecker am Morgen zum Schweigen gebracht hätte? Da haben Sie es! Sogar Funkwecker können schweigen, ich habe das nicht geschafft, jetzt erlaube ich mir sogar noch zu jammern. Es gab schon Momente, in denen ich es mir ganz einfach gemacht habe und eine Portion Schuld meiner Mutter hinüber geschoben habe, als wär‘s ein Stück Torte. Meine Mutter hat dann von Torte probiert und gesagt, daß sie ihr nicht schmecken würde und hat mir dann, wahrscheinlich weil sie mich liebt, das Stück zurückgegeben. ‚Damit mußt Du alleine fertig werden!‘, sagte sie in meiner Vorstellung und lachte bis ihre Mundwinkel eine bizarre Stellung einnahmen. Dabei war der Gedanke, daß ihr die Torte schmecken könnte gar nicht so übel, denn meine Mutter sagte etwas, das nicht zu dem paßte, was mir mein Vater und Achim stets predigten: „Nichtssagen ist auch Lügen!“ Dann gab sie mir anschauliche Beispiele für diese These. Wenn ein Junge eine Sechs in der Klassenarbeit schreibt und dann zu seinen Eltern geht und sagt: „Ich habe eine Vier geschrieben!“, dann lüge er, sagte sie und fragte, wie sie es immer machte, nach: „Habe ich recht!“ Und ich gab ihr recht, wie ich es immer tat. Dann fuhr meine Mutter fort: „Wenn ein Junge eine Sechs in der Klassenarbeit schreibt und den Eltern nichts davon erzählt, weil er hofft, daß sie bald vergessen würden, daß die Arbeit überhaupt geschrieben worden wäre, lügt er auch.“ Ich gab ihr wieder Recht. Darin war ich überhaupt ganz groß, in meiner Familie wimmelte es nur so Menschen, die Recht hatten, Recht bekamen und Recht sprachen. Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie Richter ihre Kinder erziehen? Ein Freund von mir ist der Sohn einer Familienrichterin, er sagt, daß es bei seiner Erziehung nichts Besonderes gab. Er redet viel, weil er nie etwas hatte, über das er schweigen mußte.
Ich habe mich schon häufig gefragt, ob meine Schuld vielleicht irgendwann verjähren würde. So etwa nach sieben oder nach zehn oder nach fünfzig Jahren. Oder ob es so etwas wie ein Rehabilitationsprogramm für einen Sündenbock gebe. Katharsis auf Raten gewissermaßen, erarbeite Dir die frei Seele. Diese Fragen habe ich auch meinem Therapeuten gestellt, seien Sie beruhigt, ich weiß, daß Sie sich schon lange fragen, ob ich denn in Behandlung wäre, er weicht aber in seinen Antworten gerne aus. „Schuld verjährt nicht, Schuld löst sich auf“ ist so ein Satz von ihm oder „Es gibt keine Wiedergutmachung an einer zerstörten Sache“. Das klingt philosophisch und das habe ich ihm auch so gesagt: „Herr Plesser, ich will keinen Philosophen sondern einen Psychologen!“ Er lachte darüber immer, er war, wie ich später herausfand, auch an vielen Dingen Schuld. Dadurch hatte er dann doch eine therapeutische Wirkung auf mich, ich konnte ein Budget der Verantwortlichkeiten erstellen: Dieser Flugzeugabsturz für mich, dieser Raubmord für ihn, Vergewaltigung eins und drei für mich, zwei und vier für ihn. Als ich ihm davon erzählte, bat er mich zum Rorschach- Test. Ich interpretierte alle Kleckse als Instrumente: Axt, Hammer, Messer, Meißel, Amboß und so weiter. Daraus schloß Plesser seine Diagnose: Schwere soziale Störungen bis zur paranoiden Schizophrenie bedingt durch ein traumatisches Gefüge in der Jugend. So psychologisch sich das auch anhören mag, für mich war diese Einschätzung wieder von philosophischer Natur. Erkenntnistheorie: Wenn mir etwas Schlimmes widerfahren ist, bin ich selbst auch daran schuld? Das war ein großes Problem, ich habe ein transitives Schulddenken, gerecht muß es zugehen, ich übernehme für vieles die Verantwortung, aber dafür konnte ich sie nicht tragen, unmöglich. Damit hatte mich Plesser dort, wo er mich gerne haben wollte. Aber ich blieb stark. Ich machte es mir nicht so einfach, Schuld mit Schuld aufzuwiegen und zu sagen: ‚Du bist frei!‘ Ich habe den Fehler gemacht, zwei Mal, geredet plus geredet ist gleich zwei Mal nicht schweigen! Die Impulsformel für die Unglücke meiner Umgebung. Nach drei Jahren brach ich die Therapie ab und hatte kaum ein Gramm meines Schuldgewichtes verloren. In der Folgezeit probierte ich die Aufarbeitung mit Hilfe von Talkshows, Selbsthilfegruppen, Prostituierten, der Telefonseelsorge, einem Buch über Chaostheorie und den Schmetterlingseffekt und der Kirche, alles blieb ohne Erfolg. Damals lernte ich auch Ulli kennen, meine süße Ulrike, die in dem Buchladen um die Ecke arbeitete. Ich fragte nach Büchern über Reaktionen, Kausalzusammenhänge und über die Ordnung der Dinge. Sie empfahl mir Michel Focault, Niklas Luhmann und einschlägige Kompendien über die Chaostheorie. Diese Bücher wurden zu einer Obzession für mich. Ich war begeistert von der Vorstellung, daß ein Hurrikan am Golf von Mexiko durch den Flügelschlag eines Schmetterlings in China ausgelöst werden kann. Da war es herrlich, mit einem Menschen darüber reden zu können, der das nachvollziehen konnte. Ich habe eingangs gesagt, daß Ulrike mich bis heute nicht versteht und dabei bleibe ich trotz all der tiefsinnigen Diskurse über die Zusammenhänge menschlicher Schicksale. Sie hat auch ihr ganz persönliches Problem, sie beschäftigt nicht der Gegensatz REDEN-SCHWEIGEN sondern der uralte Kampf zwischen FÜHLEN und DENKEN. Ratio versus emotio, das Thema ihres Lebenskampfes. Sie nennt mich „kopflastig“, weil ich angeblich jede Kleinigkeit durchdenken würde, wahrscheinlich hat sie recht damit. Wenn sie das zu mir sagt, ist das aber keineswegs kritisch gemeint, denn Ulli beneidet mich darum. Sie bestehe so gut wie nur aus Gefühlen wie Trauer, Melancholie, Euphorie, Mitleid oder Stolz. Dazu kann ich nichts sagen, denn ich kenne meine Freundin auch nach Jahren nicht gut genug, um das zu beurteilen. Ich würde sie vielleicht besser kennen, wenn wir vor dem Einschlafen nebeneinander im Bett liegen würden und im Dunkeln moralische Gespräche führen würden. Aber unsere stillen Kämmerlein sind voneinander getrennt, sie schläft im Schlafzimmer und ich im Arbeitszimmer. Wenn Sie jetzt über körperliche Aspekte dieser nächtlichen Trennung nachdenken, dann kann ich Ihnen unterstützend auf den Weg geben, daß Ulrike und ich noch nicht einmal Geschlechtsverkehr miteinander hatten. Die Gründe dafür werde ich bestimmt nicht nennen, denn ich habe gelernt zu schweigen.
Meine Lebensgefährtin Ulli sagt jetzt zu mir: „Du bist der ideale Sündenbock!“ „Du hast Recht!“, antworte ich ihr und puste die Kerze aus. Daß das Licht ausgeht, ist meine letzte Schuld. Ich war der ideale Sündenbock. Danke Vater, Danke Achim.
Meine Lebensgefährtin Ulrike sagt oft zu mir: „Du bist der ideale Sündenbock!“ Wenn sie das tut, antworte ich ihr meistens, nein immer: „Ich bin vielleicht ein idealer Sündenbock, aber nicht der. Denn das würde ja bedeuten, daß ich davon der Einzige auf der Welt bin und soweit reicht mein Einfluß doch nicht.“ In der Chronologie dieses repetitiven Dialogs folgt dann ein Lächeln und ein tröstendes Tätscheln meiner Freundin, eine Kombination, für die ich sie hasse. Diese wiederkehrende Reaktion zeigt mir, daß mich Ulrike nicht versteht. Für sie ist immer alles nur halbgar, diese Art von Spaß, die man an einem Rädchen anstellen, aufdrehen und nach Belieben auch wieder abstellen kann. Das ist aber keineswegs nur Ulrikes Problem, sonst wäre ich ja wohl kaum mit ihr zusammen. Diesen individuellen Spaß realisieren die meisten Menschen, die nicht zum Sündenbock dienen. Daraus erwächst natürlich die Frage, was jemanden wie mich zu einem Sündenbock macht.
Ich will diese Frage jetzt noch nicht beantworten, ich könnte es, ich würde es liebend gerne tun. Aber Sie würden die Antwort nicht ernst nehmen, weil Sie höchstwahrscheinlich auch zur Gattung der Am-Rädchen-Dreher gehören. Ich möchte Ihnen lieber zuerst vorstellen, woran ich Schuld bin. Aufzählen, welche Umstände nur deswegen auftreten, weil ich eine Sünde begangen habe. Es sind viele ganz banale dinge darunter: Wenn die junge Mutter am U- Bahnhof den Kinderwagen wieder ganz alleine die 72 Stufen hoch tragen muß, weil der Lift, für den die Stadtwerke eine Fahrpreiserhöhung von 2% durchgeführt haben, einmal mehr kaputt ist und weil die zwei bis fünf kräftigen Männer, die das Elend der schleppenden Frau mit ansehen, nicht auf die Idee kommen, ihre Hilfe anzubieten, dann bin ich daran schuld. Wenn der freundliche Mann in der Imbißbude dreimal nachfragt, ob der Kunde lieber Senf oder Ketchup auf seine entdärmte Bratwurst möchte und schlußendlich doch zur falschen Tube greift und in Folge der Beschwerde eben dieses Kunden, der ein Kreispolitiker mit erheblichem Einfluß auf das Konzessionsamt ist, den Job verliert, der nicht nur ihn, seine Frau und seine drei Töchter über Wasser gehalten hat, sondern die auch letzte Hoffnung seiner am grauen Star leidende Mutter auf die beinahe unbezahlbare Augenoperation war, dann habe ich daran meinen schuldigen Anteil. Ich bin auch schuld daran, daß zwei böse Knaben im Tierpark einen mit Glassplittern gepflückten Apfel an das süße, kleine Äffchen verfüttern, das daraufhin erbärmlich zugrunde geht, nur weil den Jungs langweilig war. Am Wasserschaden an der frisch gestrichenen Decke Ihrer Bekannten, ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern, ist nämlich schon ein Weilchen her, bin ich auch schuld. Als letztes Jahr die Straßenbahn dieser talentierten Nachwuchs- Eiskunstläuferin in Amerika den linken Fuß abtrennte, geschah dies nicht ohne mein Zutun. Ich bin genauso daran schuld, daß die Ampelphasen in Ihrer Stadt so idiotisch geschaltet sind, daß Sie mit dem Auto genauso lange zur Arbeit brauchen, als wenn Sie den Bus nehmen würden. Wenn ein unschuldiger Mensch von brutalen, skrupellosen Verbrechen ausgeraubt, verletzt oder sogar um sein Leben gebracht wird, muß ich mich dafür verantwortlich fühlen. „Du Schaf!“, sagt Ulli zu mir. Verzeihen Sie, „Ulli“ rufe ich manchmal meine Freundin, das ist dann immer recht liebevoll gemeint, sozusagen mein Verständnis von Zärtlichkeit. Sie sagt das, wenn sie meint, ich würde mich wieder zu wichtig nehmen. Für mich ist es schrecklich, wenn sie das sagt, denn dann werde ich wieder schmerzlich daran erinnert, daß Schafe meinetwegen Bauchschmerzen bekommen, wenn sie zuviel Klee fressen. Wenn der Wetterbericht zum hundertsten Male nicht stimmt und sich deswegen Tausende Menschen erkälten, im Grunde bei jeder Erkältung, bei jedem vollgerotztem Taschentuch, das ich um mich herum sehe, weiß ich: Das warst Du! Wenn beim Lotto ein Vorstandsvorsitzender gewinnt, wenn die Steuerfahndung einen Existenzgründer verhaftet, wenn die Bügelfalte schon beim dritten Waschen verschwindet, wenn zwei identische Geschenke für eine Person unter der nadelnden Tanne liegen, wenn der Stein in den Corn- Flakes den Schneidezahn entzweit, wenn eine Schlaftablette schon die Überdosis ist, wenn im Seminarraum eine schulterfrei gekleidete Frau sitzt, die den anderen fünfundzwanzig Insassen über eine Geheimsprache mitteilt, daß sie nicht viel von Deodoranten hält, wenn ein Liebesbrief zum Beweisstück Nr. 23E in einem Indizienprozeß wird, wenn der Schiedsrichter für zwei Mal Trikotzupfen gelb- rot gibt, wenn beim Lohnsteuer- Jahresausgleich der erträumte Betrag auf dem Steuerbescheid nur den Makel eines kurzen waagerechten Striches vor sich hat, wenn man beim Verzehr des besten Rumpsteaks seit langem im Radio hört, daß Rindvieh schizophren und paranoid sein kann, wenn die achtlos vom Mitbewohner liegengelassene Seife in der Duschkabine zur tödlichen Falle wird, dann ist das jeweils meine Schuld.
Ich hoffe, daß Sie jetzt in Ansätzen die Reichweite meines Einflusses erkennen können. Das hat aber nichts mit Geltungsbedürfnis zu tun, wie Ulli manchmal behauptet. Ich bin nicht machtbegierig und halte mich nicht für Gott. Ich habe nur gesündigt. Ein einziges Mal, vor 37 Jahren. In Lebenstedt, einem Ortsteil von Salzgitter. Diese einzige Sünde, gewissermaßen meine Lebensschuld, hat mich verdammt, auf alle Ewigkeit. Ich will nicht klagen darüber, denn meine Mutter und Achim, der Kegelkumpan meines Vaters haben mich gewarnt. Achim sagte mir: „Wenn Du darüber sprichst, wird ein Unglück geschehen!“ In manchen Momenten überlege ich mir, daß bei genauer grammatikalischer Interpretation von Achims Prophezeiung tatsächlich nur ein Unglück hätte geschehen dürfen, nachdem ich darüber geredet hatte. Aber grundsätzlich darf ich darüber nicht klagen oder winseln. Mein Vater hatte zu mir gesagt: „Wenn Du ´nen Apfel beim Obststand einsteckst, gehst Du dann herum und posaunst es aus?“ ganz ruhig hat er das zu mir gesagt, obwohl ich gezittert habe. Mein Vater war schon ein besonnener Mann. ‚Der hat recht!‘, dachte ich mir, wenigstens die ersten Male. Achim hat meinen Vater in der Folge immer wieder argumentativ unterstützt: „Unter Männern gilt: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold! Ist doch toll, jetzt kannst Du beweisen, daß Du ein echter Kerl bist.“ Achim war schon ein wenig emotionaler, eben nicht ganz so besonnen wie mein Vater, aber auch er konnte überzeugen. Er hatte immer so einen Nachdruck in der Stimme und dieses Bäuchlein, was einen Mann erst so richtig zu einer Respektsperson machte. Hätte ich nur auf Achim gehört. Sie haben es mir doch so oft gesagt: „Junge, halte still, dann geht alles gut.“ Sie verdeutlichten mir, daß es eine Ehre für mich war, Geheimnisträger zu sein, nur ich und kein anderer aus der Familie. Dabei war ich nie der Beliebteste, nicht zu Hause, nicht in der Schule und nicht im Turnverein. Mein Vater und Achim haben mir aber vertraut. Das war doch nichts Großes, was sie da von mir verlangt haben, nur Schweigen. Schweigen ist sozusagen Nichtstun, das ist doch normalerweise ganz einfach. Nicht daß ich ein Faulpelz gewesen wäre, das bin ich bis heute nicht. Vielleicht war es ja genau das, ich konnte nicht stillhalten, denke ich bis heute manchmal. Aber sehr überzeugend scheint mir diese Begründung nicht, denn ich habe ja lange stillgehalten, fast drei Jahre und geredet habe ich insgesamt zwei Mal. Achim sagte ein paar Mal zu mir: „Alle großen Politiker der Geschichte war auch große Schweiger!“ Ich entgegnete dann immer etwas trotzig, daß ich aber gar nicht Politiker werden wolle, sondern irgend etwas im Amt. Das ist schon lustig, da habe ich auch wirklich recht behalten. Stellen Sie sich das einmal vor, meine Schuld, mein Fehler und dann geht mein Traum in Erfüllung. Dabei bin ich selbst am Arbeitsplatz nicht von meiner Sünde erlöst: Frau Wieczorek hat neulich ihren Pott Kaffee ausgeschüttet, normalerweise hätte das ein paar Flecken und ein ordentliches Fluchen hervorgerufen. In ihrem Falle war das Fluchen ein Schrei und die Flecken waren drei Zentimeter verbrannter Handfläche. Dann wurde sie ins Krankenhaus gefahren, wo die Ärzte Haut von ihrem Oberschenkel auf die Hand transplantierten. Das führte zu einem Abszeß, der Frau Wieczorek ihr Bein gekostet hat. Und warum? Weil ich nicht auf Achim und meinen Vater gehört habe. Als hätten die Beiden mich nicht für mein Schweigen belohnt: Anziehsachen haben sie mir gekauft, monatlich neue. Die durfte ich dann zwar nie in der Schule anziehen, sondern nur, wenn ich mit den beiden zusammen war, aber die Sachen war sehr ausgefallen und bestimmt nicht billig. Mein Vater hatte ja auch genug Geld, als Richter verdiente er immer sehr gut. Was Achim beruflich machte wußte ich nicht, er erzählte mir bei jeder Gelegenheit, er wäre Profi- Kegler. Er dachte, daß ich ihm das nicht glauben würde, aber es schien mir plausibel. Die Beiden haben mir auch immer Süßigkeiten spendiert, was ich wollte, bekam ich. Hätte ich es ihnen doch nur gedankt! „Wer schweigt, der bleibt!“, das war ihr Motto. Ich wollte schweigen, nicht weil ich unbedingt bleiben wollte, sondern weil ich wußte, daß das in dieser Zeit meine Aufgabe war. Das ist doch so, heutzutage fragen alle nur noch nach rechten, nach Freizeit, nach Urlaubstagen, nach fun- fun- fun, nach Rollerblades und langen Wochenenden, nach Lohnerhöhungen und Arbeitszeitsenkungen, sie wollen Gleichberechtigung und sind doch die größten Treter. Mit welchem Recht? Wer fragt denn nach den Pflichten, nach der Daseinsberechtigung, nach Anstrengungen und besonderen Verdiensten? Ich tue das schon, gebe mir die größte Mühe, ein guter Mensch und Bürger zu sein, aber ich bin zu spät dran. Ich habe es mir verscherzt, weil ich nicht schweigen konnte. Das tut schon weh, wenn ich dümmliche, oberflächliche und in Herden lebende Mitmenschen betrachte, die nur deswegen unschuldig geblieben sind, weil sie geschwiegen haben. Und weshalb haben sie geschwiegen? Vermutlich, weil sie nichts hatten, über das sie reden konnten. Da gibt es dieses englische Sprichwort: Happy people have no stories. Ich hatte eine Geschichte, war ich vielleicht deswegen unglücklich? Das Imperfekt ist schlecht gewählt, denn unglücklich bin ich heute mehr denn je. Wären Sie nicht betrübt, wenn Sie wüßten, daß jeder dritte Rollstuhlfahrer in der Fußgängerzone nur Ihretwegen querschnittsgelähmt ist? Wenn Ihnen bewußt wäre, daß die gestreßte Mutter im überfüllten Gelenkbus ihrer Tochter auf der Plattform eine langt, weil Sie mit im Bus sitzen? Wenn sie schuld daran wären, daß viele Leute, darunter auch Notfallchirurgen und Polizisten zu spät zur Arbeit kämen, weil eine Störung am Sendemast viele Funkwecker am Morgen zum Schweigen gebracht hätte? Da haben Sie es! Sogar Funkwecker können schweigen, ich habe das nicht geschafft, jetzt erlaube ich mir sogar noch zu jammern. Es gab schon Momente, in denen ich es mir ganz einfach gemacht habe und eine Portion Schuld meiner Mutter hinüber geschoben habe, als wär‘s ein Stück Torte. Meine Mutter hat dann von Torte probiert und gesagt, daß sie ihr nicht schmecken würde und hat mir dann, wahrscheinlich weil sie mich liebt, das Stück zurückgegeben. ‚Damit mußt Du alleine fertig werden!‘, sagte sie in meiner Vorstellung und lachte bis ihre Mundwinkel eine bizarre Stellung einnahmen. Dabei war der Gedanke, daß ihr die Torte schmecken könnte gar nicht so übel, denn meine Mutter sagte etwas, das nicht zu dem paßte, was mir mein Vater und Achim stets predigten: „Nichtssagen ist auch Lügen!“ Dann gab sie mir anschauliche Beispiele für diese These. Wenn ein Junge eine Sechs in der Klassenarbeit schreibt und dann zu seinen Eltern geht und sagt: „Ich habe eine Vier geschrieben!“, dann lüge er, sagte sie und fragte, wie sie es immer machte, nach: „Habe ich recht!“ Und ich gab ihr recht, wie ich es immer tat. Dann fuhr meine Mutter fort: „Wenn ein Junge eine Sechs in der Klassenarbeit schreibt und den Eltern nichts davon erzählt, weil er hofft, daß sie bald vergessen würden, daß die Arbeit überhaupt geschrieben worden wäre, lügt er auch.“ Ich gab ihr wieder Recht. Darin war ich überhaupt ganz groß, in meiner Familie wimmelte es nur so Menschen, die Recht hatten, Recht bekamen und Recht sprachen. Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie Richter ihre Kinder erziehen? Ein Freund von mir ist der Sohn einer Familienrichterin, er sagt, daß es bei seiner Erziehung nichts Besonderes gab. Er redet viel, weil er nie etwas hatte, über das er schweigen mußte.
Ich habe mich schon häufig gefragt, ob meine Schuld vielleicht irgendwann verjähren würde. So etwa nach sieben oder nach zehn oder nach fünfzig Jahren. Oder ob es so etwas wie ein Rehabilitationsprogramm für einen Sündenbock gebe. Katharsis auf Raten gewissermaßen, erarbeite Dir die frei Seele. Diese Fragen habe ich auch meinem Therapeuten gestellt, seien Sie beruhigt, ich weiß, daß Sie sich schon lange fragen, ob ich denn in Behandlung wäre, er weicht aber in seinen Antworten gerne aus. „Schuld verjährt nicht, Schuld löst sich auf“ ist so ein Satz von ihm oder „Es gibt keine Wiedergutmachung an einer zerstörten Sache“. Das klingt philosophisch und das habe ich ihm auch so gesagt: „Herr Plesser, ich will keinen Philosophen sondern einen Psychologen!“ Er lachte darüber immer, er war, wie ich später herausfand, auch an vielen Dingen Schuld. Dadurch hatte er dann doch eine therapeutische Wirkung auf mich, ich konnte ein Budget der Verantwortlichkeiten erstellen: Dieser Flugzeugabsturz für mich, dieser Raubmord für ihn, Vergewaltigung eins und drei für mich, zwei und vier für ihn. Als ich ihm davon erzählte, bat er mich zum Rorschach- Test. Ich interpretierte alle Kleckse als Instrumente: Axt, Hammer, Messer, Meißel, Amboß und so weiter. Daraus schloß Plesser seine Diagnose: Schwere soziale Störungen bis zur paranoiden Schizophrenie bedingt durch ein traumatisches Gefüge in der Jugend. So psychologisch sich das auch anhören mag, für mich war diese Einschätzung wieder von philosophischer Natur. Erkenntnistheorie: Wenn mir etwas Schlimmes widerfahren ist, bin ich selbst auch daran schuld? Das war ein großes Problem, ich habe ein transitives Schulddenken, gerecht muß es zugehen, ich übernehme für vieles die Verantwortung, aber dafür konnte ich sie nicht tragen, unmöglich. Damit hatte mich Plesser dort, wo er mich gerne haben wollte. Aber ich blieb stark. Ich machte es mir nicht so einfach, Schuld mit Schuld aufzuwiegen und zu sagen: ‚Du bist frei!‘ Ich habe den Fehler gemacht, zwei Mal, geredet plus geredet ist gleich zwei Mal nicht schweigen! Die Impulsformel für die Unglücke meiner Umgebung. Nach drei Jahren brach ich die Therapie ab und hatte kaum ein Gramm meines Schuldgewichtes verloren. In der Folgezeit probierte ich die Aufarbeitung mit Hilfe von Talkshows, Selbsthilfegruppen, Prostituierten, der Telefonseelsorge, einem Buch über Chaostheorie und den Schmetterlingseffekt und der Kirche, alles blieb ohne Erfolg. Damals lernte ich auch Ulli kennen, meine süße Ulrike, die in dem Buchladen um die Ecke arbeitete. Ich fragte nach Büchern über Reaktionen, Kausalzusammenhänge und über die Ordnung der Dinge. Sie empfahl mir Michel Focault, Niklas Luhmann und einschlägige Kompendien über die Chaostheorie. Diese Bücher wurden zu einer Obzession für mich. Ich war begeistert von der Vorstellung, daß ein Hurrikan am Golf von Mexiko durch den Flügelschlag eines Schmetterlings in China ausgelöst werden kann. Da war es herrlich, mit einem Menschen darüber reden zu können, der das nachvollziehen konnte. Ich habe eingangs gesagt, daß Ulrike mich bis heute nicht versteht und dabei bleibe ich trotz all der tiefsinnigen Diskurse über die Zusammenhänge menschlicher Schicksale. Sie hat auch ihr ganz persönliches Problem, sie beschäftigt nicht der Gegensatz REDEN-SCHWEIGEN sondern der uralte Kampf zwischen FÜHLEN und DENKEN. Ratio versus emotio, das Thema ihres Lebenskampfes. Sie nennt mich „kopflastig“, weil ich angeblich jede Kleinigkeit durchdenken würde, wahrscheinlich hat sie recht damit. Wenn sie das zu mir sagt, ist das aber keineswegs kritisch gemeint, denn Ulli beneidet mich darum. Sie bestehe so gut wie nur aus Gefühlen wie Trauer, Melancholie, Euphorie, Mitleid oder Stolz. Dazu kann ich nichts sagen, denn ich kenne meine Freundin auch nach Jahren nicht gut genug, um das zu beurteilen. Ich würde sie vielleicht besser kennen, wenn wir vor dem Einschlafen nebeneinander im Bett liegen würden und im Dunkeln moralische Gespräche führen würden. Aber unsere stillen Kämmerlein sind voneinander getrennt, sie schläft im Schlafzimmer und ich im Arbeitszimmer. Wenn Sie jetzt über körperliche Aspekte dieser nächtlichen Trennung nachdenken, dann kann ich Ihnen unterstützend auf den Weg geben, daß Ulrike und ich noch nicht einmal Geschlechtsverkehr miteinander hatten. Die Gründe dafür werde ich bestimmt nicht nennen, denn ich habe gelernt zu schweigen.
Meine Lebensgefährtin Ulli sagt jetzt zu mir: „Du bist der ideale Sündenbock!“ „Du hast Recht!“, antworte ich ihr und puste die Kerze aus. Daß das Licht ausgeht, ist meine letzte Schuld. Ich war der ideale Sündenbock. Danke Vater, Danke Achim.
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Perugia und der graue Wolf
herr denes, 12:50Uhr
Fabrizio Ravanelli ist zurück in seiner Heimat. Was interessiert mich das, fragen Sie jetzt? Es ist eine schöne Geschichte.
Ravanelli (35) soll dem umbrischen Fußballverein AC Perugia helfen, die Abstiegsplätze in der italienischen Serie A (höchste Liga des Landes) zu verlassen und im UEFA-Cup die nächste Runde gegen den PSV Eindhoven (Niederlande) zu überstehen.
Das ist aus zwei Gründen beachtlich: Perugia hat vor einigen Wochen für Nachrichten gesorgt. Präsident Gaucci erklärte, dass er an einer Verpflichtung der deutschen Weltmeisterin Birgit Prinz interessiert sei. Prinz sollte den Angriff von Perugia stärken, lehnte aber ab.
Dass nun Ravanelli kommt, der bereits als 25-Jähriger graue Haare hatte und deswegen "lupo grigio" genannt wurde, ist eine mehr als eine Nachricht wert. Als der Stürmer vor Jahren von Juventus Turin nach England wechselte, wurde er in einer Abendsendung der BBC gefragt, ob die Premier League sein Traumziel gewesen sei. Ravanelli hat geantwortet: "Ehrlichgesagt nicht, ich möchte gerne irgendwann wieder in Perugia spielen." Der Moderator und das Publikum haben gelacht, Ravanelli behielt den "Traum" im Hinterkopf. Zuletzt saß er beim FC Dundee in der schottischen Liga auf der Bank.
Zum ersten Mal eingewechselt werden könnte Ravanelli am heutigen Sonntag im Spiel gegen den Tabellenletzten Ancona.
Ravanelli (35) soll dem umbrischen Fußballverein AC Perugia helfen, die Abstiegsplätze in der italienischen Serie A (höchste Liga des Landes) zu verlassen und im UEFA-Cup die nächste Runde gegen den PSV Eindhoven (Niederlande) zu überstehen.
Das ist aus zwei Gründen beachtlich: Perugia hat vor einigen Wochen für Nachrichten gesorgt. Präsident Gaucci erklärte, dass er an einer Verpflichtung der deutschen Weltmeisterin Birgit Prinz interessiert sei. Prinz sollte den Angriff von Perugia stärken, lehnte aber ab.
Dass nun Ravanelli kommt, der bereits als 25-Jähriger graue Haare hatte und deswegen "lupo grigio" genannt wurde, ist eine mehr als eine Nachricht wert. Als der Stürmer vor Jahren von Juventus Turin nach England wechselte, wurde er in einer Abendsendung der BBC gefragt, ob die Premier League sein Traumziel gewesen sei. Ravanelli hat geantwortet: "Ehrlichgesagt nicht, ich möchte gerne irgendwann wieder in Perugia spielen." Der Moderator und das Publikum haben gelacht, Ravanelli behielt den "Traum" im Hinterkopf. Zuletzt saß er beim FC Dundee in der schottischen Liga auf der Bank.
Zum ersten Mal eingewechselt werden könnte Ravanelli am heutigen Sonntag im Spiel gegen den Tabellenletzten Ancona.
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