... newer stories
Donnerstag, 19. Februar 2004
Faction: Höfliche Heide
herr denes, 13:48Uhr
Worauf man unerwartet stößt, das vermag von sich aus schön zu wirken. Eine solche ganz eigene Ästhetik haben - nur zum Beispiel - eine Zellstoffabrik in Kaukasien, ein Videoverleih in der Sahara und eine Drehorgelwerkstatt in Kanton.
Aber was halten Sie von einer Höflichkeitsakademie in Hankensbüttel? Diese Institution haben wir nicht etwa wegen der Anapher ausgewählt, sondern sind durch eine Einladung zum Auftakt des neuen Semesters darauf gestoßen. Nach dem Besuch beim Postkasten galt der erste Griff der deutschen Straßenkarte, Maßstab 1:500.000. Hankensbüttel liegt bei Wittingen, und das wiederum bei Uelzen, welches aber wie "Ölzen"auszusprechen ist. Uelzen selbst befindet sich etwa auf halbem Wege zwischen Hamburg und Hannover; Stichwort: Norddeutschland, Lüneburger Heide. Hankensbüttel fällt rein namentlich in dieser Lage gar nicht nicht auf - nur eine Autobahnausfahrt weiter liegt Bienenbüttel, und auch sonst wird in dieser Gegend fleißig gebüttelt. Der Ort taucht sogar in der "Encyclopedia Britannica" auf, wegen seines "Otterzentrums" nämlich. Hört sich idyllisch an, nach "Heidschnucken" genannten Schafen, bärbeißigen Bauern und listigen Honigvertretern. Was spricht also dagegen, das späte Sommerloch mit einer Reportage über Deutschlands erste Höflichkeitsakademie zu füllen?
Die Leiterin der Akademie empfängt mich mit einem sanften, aber bestimmten Händedruck. "Ich heiße Angelika Gerdes und freue mich, daß Sie unser Gast sind. Machen Sie es sich bequem, ich lasse Ihnen etwas zu trinken bringen!" Sehr schön, die 45jährige scheint ihr Geschäft zu verstehen. Höflichkeit sei eine Marktlücke, vielleicht der übernächste große Trend, meint sie. "Alle reden vom Werteverlust; wir tun etwas dagegen!" sagt sie automatisch den Slogan ihres Hauses auf. Hinter ihr hängt ein Plakat eines gut gekleideten Mannes, der dezent lächelt. Darunter steht: "Auch er ist ein Mann von geradezu chinesischer Höflichkeit."
Frau Gerdes hat ein dickes Softcover-Buch zur Hand genommen, dunkelblau mit einer blaßblauen Lilienapplikation auf dem Titel. "Curriculum" steht darauf. Sie erklärt das Veranstaltungsverzeichnis, das im Grunde sehr leicht nachzuvollziehen ist (das gehört hierorts scheinbar zum guten Ton). "Manieren auf dem Bürgersteig" heißt etwa das Seminar Nummer PRA013. "Pragmatik 13, dieses Seminar hat Tradition, es ist eng mit der Gründung dieser Akademie verbunden", sagt Frau Gerdes über die einzige Lehrveranstaltung, die von ihr geleitet wird. In diesem Seminar gehe es um die Fußgänger-Etikette, "vom richtigen Ausweichen über angemessene Armbewegungen bis hin zum Passierenlassen junger Mütter mit Kinderwagen".
In der Pragmatik-Sektion können Menschen mit Höflichkeitsdefiziten noch viele andere Seminare besuchen, die praktische Lebenshilfe bieten sollen. "Aging-Kontakte" heißt eines davon; dort geht es um richtiges, höfliches Benehmen gegenüber "älteren und wesentlich älteren Interaktionspartnern". Ein anderes Seminar widmet sich während der elf Sitzungen der "Höflichkeitshürde verschlossene Tür". Neben Pragmatik gibt es die Sektionen "Mündlich höflich", "Charakterhöflichkeit"und "interkulturelle Höflichkeit".
Ohne Frage haben viele Zeitgenossen eine Erziehung auf diesem Gebiet nötig. Das Problem für die Akademie, deren Seminare kostenpflichtig sind, dürfte darin liegen, daß sich gerade die unhöflichen Menschen selten dieser Schwäche bewußt sind, sonst würden sie sie nicht an den Tag legen. Wer also soll die Schüler heranbringen?
"Ich habe alles, was Sie mich gefragt haben, verstanden und versuche nun zu antworten", entgegnet Angelika Gerdes in der üblichen langsamen Intonation. Höflichkeit werde zu einem Trend, zu einem Ausscheidungskriterium für Akzeptanz, Aufmerksamkeit und den Erfolg bei der Partnersuche. Ein gentleman- bzw. sportsmanlike Verhalten würde die rauhen Sitten bald zu obsoleten Erscheinungen der industriellen Postmoderne machen: "Von der Überholspur zurück nach rechts einordnen, das wird kommen. Dann werden die Leute Durst auf eine kompetente Unterweisung in guten Manieren haben. Eltern werden ihren Sprößlingen das korrekte Verhalten beibringen wollen, nur werden sie selbst nicht mehr wissen, was dieses eigentlich ausmacht."
Die Leiterin der ersten deutschen Höflichkeitsakademie hat eindeutig ihre Hausaufgaben gemacht. Ihr Auftreten rechtfertigt auch die teilweise horrenden Preise der Seminare. Bleibt nur noch die Frage nach der Ästhetik des Unerwarteten. Warum gerade Hankensbüttel? "Einerseits haben wir uns hier niedergelassen, weil man die Kurse mit einem Landurlaub verbinden kann, andererseits läßt sich bei den muffligen Heidebauern gleich der Erfolg der frisch erworbenen Höflichkeit testen."
Der Holundersaft hat gut geschmeckt; zum Nachmittag lade ich Frau Gerdes noch auf eine schöne Tasse Kaffee in der akademieeigenen Cafeteria ein. Der Kellner, ein ehemaliger Schüler, ist so höflich, daß er mir ganz ungefragt die Rechnung in die Hand drückt. Hankensbüttel kann also jetzt problemlos mithalten mit dem Platinenwerk in Alma-Ata, dem Lautsprecherladen in Lesotho und dem Plüschtierladen im Frauenknast. Und das ist doch auch schon was.
... link (0 Kommentare) ... comment
Faction: Der Einkäufer
herr denes, 13:43Uhr
Es ist ein Erlebnis, mit Hackbarth einkaufen zu gehen - ein Abenteuer in der bunten Welt der Konsumtempel, und gleichzeitig (das liegt in der Natur von Hackbarths Sache) in jeder Hinsicht ein Geheimtip. Dabei spielt es keine Rolle, ob man ihn in einen ganz gewöhnlichen Supermarkt begleitet, in ein sechsstöckiges Kaufhaus oder in eines dieser Shopping-Center, die inzwischen fast jede Vorstadt unseres Kulturkreises "bereichern".
Nick Hackbarth geht an fünf Tagen der Woche shoppen. Dabei stehen an jedem dieser Tage Lebensmittel auf dem Einkaufszettel, den er morgens am heimischen Rechner komponiert. (Für den beschafft er sich übrigens an zwei von fünf "Arbeitstagen" neues Zubehör.) Die Ziele seiner Einkaufsbummel sind jeden Tag andere, und auch die Städte, in denen er Läden und Märkte aufsucht, wechseln häufig.
Hackbarth, dessen Vorname bereits kriminalistische Assoziationen weckt, lebt von diesen Shopping-Touren: er ist professioneller Einkäufer - wobei der Ausdruck "Käufer" seinem Verhalten nicht wirklich gerecht wird. Der Mann, der sich selbst gelegentlich als "spezieller Konsumprofi" bezeichnet, ist nämlich weder Warentester noch Restaurantzulieferer, sondern Detektiv. Und nicht etwa ein Kaufhausdetektiv - mit diesem Job machte er schon vor Jahren Schluß, weil er ihm zu langweilig war.
Nein, Hackbarth bietet Supermarktketten, Kaufhäusern und Fachgeschäften seine Dienste als professioneller Ladendieb an. Der Deal mit der jeweiligen Geschäftsführung ist jedes Mal der gleiche: er soll klauen, soviel er kann. Was er unbehelligt aus dem Laden herausschafft, darf er behalten; wenn er erwischt wird, muß er die Sachen zwar abgeben, wird aber keineswegs der Polizei vorgeführt. Das klingt so verworren und verwegen, daß der FAKTENFIKTION sich einfach Klarheit darüber verschaffen mußte - und Nick Hackbarth interviewte.
FaktenFiktion: Den Espresso bezahlt unser Magazin, hätten sie ihn sonst...
Hackbarth: Nicht bezahlt? Doch, doch, mit Sicherheit. Zechprellerei finde ich schäbig, außerdem habe ich von diesem Café keinen Auftrag !
FaktenFiktion: Suchen Sie sich die Aufträge, oder wendet man sich an Sie?
Hackbarth: Als ich mit meinem Job anfing, mußte ich mich noch an die Regionalverwalter und Geschäftsführer wenden, aber inzwischen hat sich meine Tätigkeit in diesen Kreisen ziemlich herumgesprochen.
FaktenFiktion: Wann haben Sie eigentlich begonnen, professionell Ladendiebstähle zu begehen?
Hackbarth: Vor etwa drei Jahren - wobei ich das Teststecken anfangs nur "nebenberuflich" betrieben habe. Die Idee dazu kam mir, nachdem ich auf einem Kriminologenkongreß in den Niederlanden einen Kollegen kennengelernt hatte, der zur Ferienzeit die Alarmanlagen von Häusern überlistete, um deren Besitzer auf Sicherheitsmängel aufmerksam zu machen. Der hat damals mit Sicherheitsberatungen gutes Geld verdient.
FaktenFiktion: Wie haben Sie das gerade genannt - "Teststecken"?
Hackbarth: Na ja, klauen kann ich es nicht nennen, aber einkaufen genausowenig.
FaktenFiktion: Wenn Sie einen Auftrag bekommen, wie gehen Sie dann vor?
Hackbarth: Also, zunächst sammle ich immer einige Aufträge aus einer bestimmten Stadt oder einem Landkreis, damit sich die Anreise lohnt. Dann schreibe ich meinen Einkaufszettel und erstelle einen Zeitplan. Pünktlichkeit ist sehr wichtig in meinem Metier; die Chefs wollen häufig die Aufmerksamkeit bestimmter Mitarbeiter testen, die zu einer festgelegten Zeit Dienst haben.
FaktenFiktion: Wie läuft es denn so im Supermarkt? Kann man wirklich aus jedem Regal klauen, was man gerade braucht?
Hackbarth: Theoretisch kann man in einem Geschäft, wo man ein Stück entwendet, so viel klauen, wie in eine Tasche paßt. Aber ganz so einfach ist das natürlich nicht; die Verkäufer passen schon sehr gut auf.
FaktenFiktion: "Stecken" Sie denn nur, worauf Sie Lust haben und was Sie gerade brauchen, oder setzt man Sie auf bestimmte Waren an?
Hackbarth: Also, gewisse Vorgaben gibt es schon - wobei es meinen Auftraggebern meist auf eine bestimmte Abteilung ankommt und nicht so sehr auf spezielle Artikel. Aber manche Sachen habe ich wirklich schon hundertfach zu Hause.
FaktenFiktion: Was denn zum Beispiel?
Hackbarth: Druckerpatronen für jede Gerätemarke; noch skurriler sind Haarspangen und Kämme - wenn man bedenkt, daß ich kaum noch Haare am Kopf habe...
FaktenFiktion: Wie sieht denn Ihre Erfolgsquote aus? Zum Beispiel bei Lebensmitteln?
Hackbarth (zeigt auf seinen Bauch): Schauen Sie mich an, sei drei Jahren esse ich fast nur noch Testgestecktes! Aber wahrscheinlich werde ich bald zum totalen Vegetarier. Obst und Gemüse habe ich bisher noch in jedem Supermarkt weggekriegt. Aber Fleisch hole ich mir eher abgepackt, weil das Gedränge an der Kühltruhe meist recht groß ist.
FaktenFiktion: Und nach dem "Ladenbummel" gehen Sie dann einfach durch die Kassenschleuse, ohne zu bezahlen?
Hackbarth: Nicht unbedingt. Gelegentlich kaufe ich auch etwas, wie z. B. Waschmittel, das ohnehin recht sperrig ist - oder, wenn ich ganz dreist unterwegs bin, auch nur zwei Zitronen oder eine Packung Kaugummis. Der Großteil bleibt aber gratis für mich.
FaktenFiktion: Und anschließend fahren Sie mit den Waren nach Hause?
Hackbarth: Natürlich nicht. Nachdem ich raus bin aus dem Laden, empfangen mich der Filialleiter oder der Geschäftsführer, und denen präsentiere ich dann meine Ausbeute. Wenn ich viel mitgenommen habe, verdiene ich noch das Geld für meine Miete dazu, indem ich Sicherheitslehrgänge gebe. Dabei verrate ich den Angestellten alle Tricks, mit denen Ladendiebe gewöhnlich arbeiten.
FaktenFiktion: Wie reagieren die Mitarbeiter eines Geschäfts, die Sie übers Ohr hauen?
Hackbarth: Wenn die mich erwischen - das passiert in etwa einem von acht Fällen -, wird es meist peinlich für mich. Die anderen Kunden starren einen an, und oft schlägt auch ganz schnell die blanke Aggression der Angestellten durch. Wenn die sich aber vom Chef eine Predigt anhören müssen, weil Sie mein Treiben nicht bemerkt haben, schauen sie meistens ziemlich dumm aus der Wäsche.
FaktenFiktion: Und wie verhalten sich Ihre Auftraggeber nach einem erfolgreichen "Teststecken"?
Hackbarth: Komischerweise sind die Geschäftsführer eher zufrieden, wenn ich etwas mitgenommen habe, ohne zu bezahlen. Vielleicht, weil sich der Einsatz dann gelohnt hat...
FaktenFiktion: Ihr Photo müßte doch inzwischen landesweit in allen Umkleideräumen der Supermärkte und Kaufhäusern hängen?
Hackbarth (lacht): So schlimm ist es ja doch noch nicht! Ich habe erst an die 800 Läden getestet und bin nur ganz selten als "Wiederholungstäter" aufgetreten. Sie müssen bedenken, daß ich ständig an neuen Orten operiere.
FaktenFiktion: Und wieviel "verdienen" Sie so im Monatsdurchschnitt?
Hackbarth: Ehrlich, das habe ich noch nie zusammengerechnet. Aber mein Lebensstandard ist jetzt garantiert höher als in meiner Zeit als Kaufhausdetektiv und Schnüffler.
FaktenFiktion: Finden Sie das Ihren Job nicht etwas anrüchig?
Hackbarth: Mag sein - aber nicht so anrüchig, wie gegen Bezahlung in Ehekrisen herumzustochern oder "diskrete Nachforschungen" im Rotlichtmilieu anzustellen.
FaktenFiktion: Können Sie uns noch eine besonders interessante oder witzige Anekdote aus Ihrer beruflichen Laufbahn erzählen?
Hackbarth: Im Grunde lebe ich ja in einer Anekdote. Aber meine Arbeit wird umso interessanter, je dreister ich werde. Einmal habe ich an einem Mittwoch in Köln ein Paar "Nike Air"-Sportschuhe für meinen Sohn gesteckt, der die Dinger dann zu Hause anprobiert hat. Die waren eine Nummer zu klein für ihn, also bin ich am nächsten Tag in Remagen in so ein Riesen-Schuhcenter gegangen und habe behauptet, daß ich die Schuhe dort gekauft und in meiner Freude über den günstigen Preis die Quittung verbummelt hätte. Nach etwas Zögern tauschte man sie mir in ein Paar der richtigen Größe um.
FaktenFiktion: Zum Abschluß möchten wir noch gern wissen, wie Sie in einem Fragebogen Ihre Berufsbezeichnung angeben würden.
Hackbarth: Ich pflege mich als Einkäufer zu bezeichnen.
... link (0 Kommentare) ... comment
... older stories