Der Zwischenfall
herr denes, 08:12Uhr
Im blendenden Sonnenschein dieses freundlichen Herbsttages drängen sich die Schaulustigen am Berliner S-Bahnhof Feuerbachstraße. Drei Gruppen von Wartenden haben sich gebildet: die, die von links auf das Geschehen blicken, die von rechts Zusehenden und solche, die den Anschein erwecken wollten, sie seien keine gaffenden Glotzer. Die Stimmung ist geladen; wer in Richtung Oranienburg fahren will, hat als Legitimation für seine Neugierde wenigstens die Tatsache, daß sein Zug nicht weiterfahren kann.
Das Subjekt, dem ihre unverhohlenen Blicke gelten, ist ein jüngerer Mann, etwas über dreißig und recht gut gekleidet. Er ist zwischen Bahnsteigkante und dem stehenden S-Bahn-Zug eingeklemmt.
Auf dem schön restaurierten Bahnhof im südlichen Teil Berlins haben sich allerlei (auch selbsternannte) Experten für solche Fälle eingefunden. Zwei Feuerwehrwagen sind angerückt, mit insgesamt acht Mann Besatzung, ein Wagen des Technischen Hilfswerks und diverse S-Bahn- und Polizeibeamte. Dazu kamen vor einigen Minuten auch noch sechs Wachschutzleute, die nun damit beschäftigt sind, Schaulustige von dem Mann fernzuhalten. Der Betroffene wirkt halbwegs gelassen. Er wischt sich ab und zu den Schweiß von der Stirn und wechselt ein paar Worte mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr. Das Problem besteht darin, daß man ihn nicht ohne weiteres aus seiner gequetschten Lage herausziehen kann, weil sein Becken genau in der Lücke zwischen Bahnsteig und Zug feststeckt.
Immer wieder schalten sich auch die Wartenden in die Konsultationen über die Rettung des Gefangenen ein. "Man muß ihn so hin und her ruckeln!" ruft ein älterer Herr mit einer Schiebermütze und wedelt dabei mit seiner Plastiktüte vom Supermarkt gleich neben dem Bahnhof. Eine Studentin schüttelt, nachdem sie das Geschehen einige Minuten verfolgt hat, den Kopf und geht dann weg. Sie studiert Medizin, sagt sie. Sie weiß, wie lange so etwas dauern könne, und sie würde jetzt ohnehin schon zu spät zur der Uni kommen. Dann meint sie noch, daß den Mann ihrer Meinung nach eine Mitschuld treffe, vielleicht sogar die Hauptschuld - schließlich wäre der große Abstand zwischen Bahnsteigkante und Zug an dieser Station bekannt und zusätzlich auf diversen Warntafeln vermerkt.
Eine alte Frau ist ähnlicher Ansicht, obwohl sie keinen Termin verpaßt. Sie hält den Gequetschten für einen Selbstmörder: "Dit passiert doch imma wieda! Neulüsch uff der U9 ooch! Da mußt ick jeschlagene fuffzig Minuten uff meen Zug waaten!" Sie fragt einen der Wachschutzmitarbeiter, wann denn ein Ersatzverkehr mit Bussen eingerichtet würde; schließlich hätte sie nicht ewig Zeit. Der Uniformierte antwortet ihr gelassen, daß er das nicht beurteilen könne. Die Dame solle doch froh sein, daß wenigstens die Sonne scheint.
Nach einer guten Viertelstunde kommt endlich etwas Bewegung in das Geschehen. Der Bahnhofsansager verkündet, daß in Richtung Oranienburg in Kürze ein Schienenersatzverkehr mit Bussen eingerichtet würde, die von der Straße über dem Bahnhof abfahren. Während der Großteil der Wartenden meckernd oder belustigt davontrottet, scheint diese Nachricht dem eingeklemmten Mann Angst einzujagen. Er läßt den Kopf hängen; dann bittet er zaghaft um Wasser.
Inzwischen ist auch ein Mitarbeiter des psychologischen Hilfsdienstes der Feuerwehr eingetroffen, der versucht, das Unfallopfer bei Laune zu halten. Er fragt den Mann, was er denn heute noch vorhabe. "Ich wollte zu einem Geschäftstermin, und mein Auto ist nicht angesprungen. Da komme ich ja garantiert nicht mehr pünktlich hin, aber ich habe gleich angerufen, nachdem das passiert ist. Und heute abend wollte ich mit meiner Verlobten ins Theater gehen. 'Richard III.' im Berliner Ensemble. Kennen Sie Shakespeare? Soll eine hervorragende Inszenierung sein. Danach gehen wir fein essen. Im Manarola, das ist so ein italienisches Lokal mit ligurischen Spezialitäten. Tintenfisch und Pesto, haben Sie vielleicht schon gehört." Der Psychologe leistet gute Arbeit, denn der Mann macht inzwischen wieder einen etwas entspannteren Eindruck.
Immer noch drücken sich ein paar Schaulustige herum, vor allem Leute, die auf Züge aus der Gegenrichtung warten. Allerdings halten sie jetzt mehr Abstand zum Geschehen und sparen sich auch ihre Ratschläge an die inzwischen gut zwanzig Personen umfassenden Hilfskräfte. Ein Polizist spricht mit dem Streckenmanager der S-Bahn darüber, ob man den Bahnhof vollständig sperren solle. Zuvor hatte der Notarzt erläutert, daß die Bergung des Mannes sehr problematisch werden könne. Er könne nicht manuell herausgezogen werden, weil der Zug ihn bei seinem Bremsmanöver in der Lücke fixiert hat. Würde die Garnitur leicht anfahren, dann würde der Eingequetschte entweder mitgeschleift oder von den großen Eisenhaken an der Außenwand der S-Bahn zerfleischt. Der Feuerwehrmann schlägt ein Anheben des S-Bahn-Zuges mit einem Kran vor, was zwar sehr zeitaufwendig, aber immerhin noch die beste Lösung in Hinblick auf die Gesundheit des Gefangenen sei. Der Notarzt ist nicht dieser Meinung; er meint, daß es jetzt nicht mehr primär darum ginge, den Mann aus der Lücke zu holen, sondern schnell ein Leben zu retten. Dabei müsse auch in Kauf genommen werden, daß der Eingeklemmte seine Beine verlieren könnte.
In der Zwischenzeit hat der Psychologe den Oberkörper des Mannes in eine graue Wolldecke gewickelt, weil dieser trotz des spätsommerlichen Wetters friert. Die beiden duzen sich mittlerweile. Uli heißt der Eingeklemmte, Gerd ist sein Betreuer. "Das ist doch große Scheiße, Gerd! Ich mein´, so ein Dreck. Das kann ich nicht mal erzählen, so ein Mist ist das!" Der Mann kann sich nicht mehr richtig artikulieren, lallt und hat einen verklärten Blick, als hätte er zuviel Alkohol getrunken. Gelegentlich zittert er vor Schüttelfrost und stöhnt leise, aber unüberhörbar. Der Psychologe unterhält sich kurz mit dem Notarzt und wirkt dabei recht niedergeschlagen. Er reibt sich immer wieder die geschlossenen Augen und streift dann mit Daumen und Zeigefinger über seine Nase. Der Notarzt hat ihm erklärt, daß der Mann nun schon über eine Dreiviertelstunde eingequetscht sei, was den Ernst der Lage zusätzlich verschärfte. Er sollte Uli halbwegs menschlich klar machen, daß die beste Variante noch wäre, ihn von unten her freizuschneiden. Dies würde ihn zwar ein Bein kosten, aber wenigstens seine Überlebenschancen erhöhen.
Auch den Zuhörern des Gesprächs ist die Beklemmung anzumerken. Der Notarzt erklärt einigen Beamten, wo das Problem liegt: "In der Medizin heißt das 'Crush-Kidney-Syndrom'! Wenn jemand für längere Zeit, also mindestens eine halbe Stunde, verschüttet oder eingeklemmt ist, stoßen die abgeklemmten Muskeln große Mengen eines Stoffes namens Mioglobin aus." "Meine Schwester hat Diabetes, die muß immer ihren Hämoglobinspiegel messen", meldet sich der Wachmann. "Genau", antwortet der Notarzt nickend. "Das ist ein ganz ähnlicher Stoff. In kleinen Mengen sinnvoll, aber ein bißchen zuviel davon, und schon gehen die Nieren kaputt." Dem Gequetschten droht also akutes Nierenversagen, wenn er nicht bald aus seiner Lage befreit wird. Deswegen zögert der Psychologe wohl auch nicht lange und erklärt dem Mann seine mißliche Situation. Aus der Entfernung macht es den Eindruck, als sei der Eingeklemmte mittlerweile verrückt geworden, zumindest scheint er seinem Vertrauten Gerd nicht mehr zu glauben. Er wird unruhig, lacht dann hysterisch und schreit: "Ihr seid doch unfähig! Ich weiß schon, warum ich sonst Auto fahre!" Die wenigen Schaulustigen wenden sich nun von dem Mann ab und bewegen sich an die Enden des Bahnsteigs. Sie scheinen zu fühlen, daß bald etwas Schlimmes passieren wird.
Uli hat sich vor ein paar Sekunden übergeben und wird nun vom Psychologen und einem Sanitäter beruhigt. Er soll ein paar Löffel Kraftbrühe zu sich nehmen, die er allerdings nicht haben will. "Muß ich wirklich ein Bein verlieren?" sagt er plötzlich leise zu Gerd. Der Psychologe ist trotz der unangenehmen Frage erleichtert und geht zum Einsatzleiter der Feuerwehr. Nach wenigen Augenblicken betreten der S-Bahn-Fahrer und zwei Feuerwehrleute den leeren Waggon. Durch eine Luke in der Mitte steigen die Feuerwehrleute unter den Wagenboden; sie haben eine Kreissäge bei sich. Nun werden alle nicht direkt Beteiligten von der Polizei gebeten, sich aus der Umgebung des Eingeklemmten zu entfernen. Man hört die kreischenden Geräusche der Säge und meint auch immer wieder ganz leise, wie eine Querflöte in einem Symphonieorchester, das Stöhnen des Mannes zu hören.
Auf dem Gegengleis fährt ein voller S-Bahn-Zug in Richtung Oranienburg durch den Bahnhof. Scheinbar ist der Schienenersatzverkehr aufgehoben worden und nur noch dieser Bahnsteig abgesperrt. Als der Lärm des Zugs nachläßt, verstummt auch das Geräusch der Säge. Nun geht alles sehr schnell. Der Mann wurde scheinbar befreit und in Windeseile auf eine Trage des Rettungswagens gelegt. Man sieht nur noch die Sanitäter die Treppe hinaufrennen, Psychologe und Notarzt eilen hinterher. Ein Polizist erklärt den Unfallhelfern, daß das Opfer "ins AVK" gebracht werde, das nahegelegene Auguste-Viktoria-Krankenhaus. 73 Minuten, nachdem der Mann vom Zug der S-Bahn-Linie 1 nach Oranienburg eingeklemmt worden war, hört man ein diffuses Gemisch verschiedener Martinshörner.
Der Mann stirbt elf Stunden nach seinem Eintriffen in der Notaufnahme an akutem Nierenversagen; sein Mioglobinspiegel hatte das 145fache des Normalwerts erreicht. Äußerlich hatte er nur ein paar blaue Flecken abbekommen. Als Todesursache wurde offiziell "Crush-Kidney-Syndrom" angegeben.
Übrigens plant die S-Bahn-Berlin, den Bahnhof Feuerbachstraße in einigen Wochen umzubauen; bei dieser Gelegenheit sollen auch die Bahnsteigkanten verbreitert werden.
Das Subjekt, dem ihre unverhohlenen Blicke gelten, ist ein jüngerer Mann, etwas über dreißig und recht gut gekleidet. Er ist zwischen Bahnsteigkante und dem stehenden S-Bahn-Zug eingeklemmt.
Auf dem schön restaurierten Bahnhof im südlichen Teil Berlins haben sich allerlei (auch selbsternannte) Experten für solche Fälle eingefunden. Zwei Feuerwehrwagen sind angerückt, mit insgesamt acht Mann Besatzung, ein Wagen des Technischen Hilfswerks und diverse S-Bahn- und Polizeibeamte. Dazu kamen vor einigen Minuten auch noch sechs Wachschutzleute, die nun damit beschäftigt sind, Schaulustige von dem Mann fernzuhalten. Der Betroffene wirkt halbwegs gelassen. Er wischt sich ab und zu den Schweiß von der Stirn und wechselt ein paar Worte mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr. Das Problem besteht darin, daß man ihn nicht ohne weiteres aus seiner gequetschten Lage herausziehen kann, weil sein Becken genau in der Lücke zwischen Bahnsteig und Zug feststeckt.
Immer wieder schalten sich auch die Wartenden in die Konsultationen über die Rettung des Gefangenen ein. "Man muß ihn so hin und her ruckeln!" ruft ein älterer Herr mit einer Schiebermütze und wedelt dabei mit seiner Plastiktüte vom Supermarkt gleich neben dem Bahnhof. Eine Studentin schüttelt, nachdem sie das Geschehen einige Minuten verfolgt hat, den Kopf und geht dann weg. Sie studiert Medizin, sagt sie. Sie weiß, wie lange so etwas dauern könne, und sie würde jetzt ohnehin schon zu spät zur der Uni kommen. Dann meint sie noch, daß den Mann ihrer Meinung nach eine Mitschuld treffe, vielleicht sogar die Hauptschuld - schließlich wäre der große Abstand zwischen Bahnsteigkante und Zug an dieser Station bekannt und zusätzlich auf diversen Warntafeln vermerkt.
Eine alte Frau ist ähnlicher Ansicht, obwohl sie keinen Termin verpaßt. Sie hält den Gequetschten für einen Selbstmörder: "Dit passiert doch imma wieda! Neulüsch uff der U9 ooch! Da mußt ick jeschlagene fuffzig Minuten uff meen Zug waaten!" Sie fragt einen der Wachschutzmitarbeiter, wann denn ein Ersatzverkehr mit Bussen eingerichtet würde; schließlich hätte sie nicht ewig Zeit. Der Uniformierte antwortet ihr gelassen, daß er das nicht beurteilen könne. Die Dame solle doch froh sein, daß wenigstens die Sonne scheint.
Nach einer guten Viertelstunde kommt endlich etwas Bewegung in das Geschehen. Der Bahnhofsansager verkündet, daß in Richtung Oranienburg in Kürze ein Schienenersatzverkehr mit Bussen eingerichtet würde, die von der Straße über dem Bahnhof abfahren. Während der Großteil der Wartenden meckernd oder belustigt davontrottet, scheint diese Nachricht dem eingeklemmten Mann Angst einzujagen. Er läßt den Kopf hängen; dann bittet er zaghaft um Wasser.
Inzwischen ist auch ein Mitarbeiter des psychologischen Hilfsdienstes der Feuerwehr eingetroffen, der versucht, das Unfallopfer bei Laune zu halten. Er fragt den Mann, was er denn heute noch vorhabe. "Ich wollte zu einem Geschäftstermin, und mein Auto ist nicht angesprungen. Da komme ich ja garantiert nicht mehr pünktlich hin, aber ich habe gleich angerufen, nachdem das passiert ist. Und heute abend wollte ich mit meiner Verlobten ins Theater gehen. 'Richard III.' im Berliner Ensemble. Kennen Sie Shakespeare? Soll eine hervorragende Inszenierung sein. Danach gehen wir fein essen. Im Manarola, das ist so ein italienisches Lokal mit ligurischen Spezialitäten. Tintenfisch und Pesto, haben Sie vielleicht schon gehört." Der Psychologe leistet gute Arbeit, denn der Mann macht inzwischen wieder einen etwas entspannteren Eindruck.
Immer noch drücken sich ein paar Schaulustige herum, vor allem Leute, die auf Züge aus der Gegenrichtung warten. Allerdings halten sie jetzt mehr Abstand zum Geschehen und sparen sich auch ihre Ratschläge an die inzwischen gut zwanzig Personen umfassenden Hilfskräfte. Ein Polizist spricht mit dem Streckenmanager der S-Bahn darüber, ob man den Bahnhof vollständig sperren solle. Zuvor hatte der Notarzt erläutert, daß die Bergung des Mannes sehr problematisch werden könne. Er könne nicht manuell herausgezogen werden, weil der Zug ihn bei seinem Bremsmanöver in der Lücke fixiert hat. Würde die Garnitur leicht anfahren, dann würde der Eingequetschte entweder mitgeschleift oder von den großen Eisenhaken an der Außenwand der S-Bahn zerfleischt. Der Feuerwehrmann schlägt ein Anheben des S-Bahn-Zuges mit einem Kran vor, was zwar sehr zeitaufwendig, aber immerhin noch die beste Lösung in Hinblick auf die Gesundheit des Gefangenen sei. Der Notarzt ist nicht dieser Meinung; er meint, daß es jetzt nicht mehr primär darum ginge, den Mann aus der Lücke zu holen, sondern schnell ein Leben zu retten. Dabei müsse auch in Kauf genommen werden, daß der Eingeklemmte seine Beine verlieren könnte.
In der Zwischenzeit hat der Psychologe den Oberkörper des Mannes in eine graue Wolldecke gewickelt, weil dieser trotz des spätsommerlichen Wetters friert. Die beiden duzen sich mittlerweile. Uli heißt der Eingeklemmte, Gerd ist sein Betreuer. "Das ist doch große Scheiße, Gerd! Ich mein´, so ein Dreck. Das kann ich nicht mal erzählen, so ein Mist ist das!" Der Mann kann sich nicht mehr richtig artikulieren, lallt und hat einen verklärten Blick, als hätte er zuviel Alkohol getrunken. Gelegentlich zittert er vor Schüttelfrost und stöhnt leise, aber unüberhörbar. Der Psychologe unterhält sich kurz mit dem Notarzt und wirkt dabei recht niedergeschlagen. Er reibt sich immer wieder die geschlossenen Augen und streift dann mit Daumen und Zeigefinger über seine Nase. Der Notarzt hat ihm erklärt, daß der Mann nun schon über eine Dreiviertelstunde eingequetscht sei, was den Ernst der Lage zusätzlich verschärfte. Er sollte Uli halbwegs menschlich klar machen, daß die beste Variante noch wäre, ihn von unten her freizuschneiden. Dies würde ihn zwar ein Bein kosten, aber wenigstens seine Überlebenschancen erhöhen.
Auch den Zuhörern des Gesprächs ist die Beklemmung anzumerken. Der Notarzt erklärt einigen Beamten, wo das Problem liegt: "In der Medizin heißt das 'Crush-Kidney-Syndrom'! Wenn jemand für längere Zeit, also mindestens eine halbe Stunde, verschüttet oder eingeklemmt ist, stoßen die abgeklemmten Muskeln große Mengen eines Stoffes namens Mioglobin aus." "Meine Schwester hat Diabetes, die muß immer ihren Hämoglobinspiegel messen", meldet sich der Wachmann. "Genau", antwortet der Notarzt nickend. "Das ist ein ganz ähnlicher Stoff. In kleinen Mengen sinnvoll, aber ein bißchen zuviel davon, und schon gehen die Nieren kaputt." Dem Gequetschten droht also akutes Nierenversagen, wenn er nicht bald aus seiner Lage befreit wird. Deswegen zögert der Psychologe wohl auch nicht lange und erklärt dem Mann seine mißliche Situation. Aus der Entfernung macht es den Eindruck, als sei der Eingeklemmte mittlerweile verrückt geworden, zumindest scheint er seinem Vertrauten Gerd nicht mehr zu glauben. Er wird unruhig, lacht dann hysterisch und schreit: "Ihr seid doch unfähig! Ich weiß schon, warum ich sonst Auto fahre!" Die wenigen Schaulustigen wenden sich nun von dem Mann ab und bewegen sich an die Enden des Bahnsteigs. Sie scheinen zu fühlen, daß bald etwas Schlimmes passieren wird.
Uli hat sich vor ein paar Sekunden übergeben und wird nun vom Psychologen und einem Sanitäter beruhigt. Er soll ein paar Löffel Kraftbrühe zu sich nehmen, die er allerdings nicht haben will. "Muß ich wirklich ein Bein verlieren?" sagt er plötzlich leise zu Gerd. Der Psychologe ist trotz der unangenehmen Frage erleichtert und geht zum Einsatzleiter der Feuerwehr. Nach wenigen Augenblicken betreten der S-Bahn-Fahrer und zwei Feuerwehrleute den leeren Waggon. Durch eine Luke in der Mitte steigen die Feuerwehrleute unter den Wagenboden; sie haben eine Kreissäge bei sich. Nun werden alle nicht direkt Beteiligten von der Polizei gebeten, sich aus der Umgebung des Eingeklemmten zu entfernen. Man hört die kreischenden Geräusche der Säge und meint auch immer wieder ganz leise, wie eine Querflöte in einem Symphonieorchester, das Stöhnen des Mannes zu hören.
Auf dem Gegengleis fährt ein voller S-Bahn-Zug in Richtung Oranienburg durch den Bahnhof. Scheinbar ist der Schienenersatzverkehr aufgehoben worden und nur noch dieser Bahnsteig abgesperrt. Als der Lärm des Zugs nachläßt, verstummt auch das Geräusch der Säge. Nun geht alles sehr schnell. Der Mann wurde scheinbar befreit und in Windeseile auf eine Trage des Rettungswagens gelegt. Man sieht nur noch die Sanitäter die Treppe hinaufrennen, Psychologe und Notarzt eilen hinterher. Ein Polizist erklärt den Unfallhelfern, daß das Opfer "ins AVK" gebracht werde, das nahegelegene Auguste-Viktoria-Krankenhaus. 73 Minuten, nachdem der Mann vom Zug der S-Bahn-Linie 1 nach Oranienburg eingeklemmt worden war, hört man ein diffuses Gemisch verschiedener Martinshörner.
Der Mann stirbt elf Stunden nach seinem Eintriffen in der Notaufnahme an akutem Nierenversagen; sein Mioglobinspiegel hatte das 145fache des Normalwerts erreicht. Äußerlich hatte er nur ein paar blaue Flecken abbekommen. Als Todesursache wurde offiziell "Crush-Kidney-Syndrom" angegeben.
Übrigens plant die S-Bahn-Berlin, den Bahnhof Feuerbachstraße in einigen Wochen umzubauen; bei dieser Gelegenheit sollen auch die Bahnsteigkanten verbreitert werden.
Donnerstag, 22. Januar 2004, 08:12, von herr denes |
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