Faction: Das Rätsel von Neuenburg (2000)
herr denes, 00:37Uhr
Auf der Dorfstraße herrscht nicht viel Verkehr. Mit Schrittgeschwindigkeit biegt ein grün-gelber Traktor in einen Feldweg ein, ein junger Mann putzt die Fenster der Apotheke. Es ist Mittagszeit und auch im Saarland pflegt man, dann eine Ruhepause zu nehmen. Eine gute Gelegenheit zum Schauen. Auf der saftigsten Weide des kleinen Dorfes Neuenburg bei Kaiserslautern steht ein runder Holzschuppen, der gut fünf Meter hoch ist und kein Dach hat. Nähert man sich diesem ungewöhnlichen Bau tagsüber, dann wird man schon nach einigen Schritten von einem der mürrischen Ortsansässigen gestoppt. Jetzt scheint niemand aufzupassen, es ist an der Zeit, dass jemand das Rätsel von Neuenburg löst.
Der fensterlose Bau an der Homburger Straße hat schon ganze Meuten von Lokalreportern beschäftigt. Rudolf Ehrmann von der „Saarland Rundschau“ berichtet von einer „ungewöhnlichen Verschwiegenheit“ unter den sonst redseligen Dorfbewohnern. Er hat sich vor gut zwei Monaten eine Platzwunde am Hinterkopf bei dem Versuch zugezogen, den Schuppen zu begehen. „Das war die Bürgerwehr. Da arbeiten alle Männer des Dorfes“, erklärt Ehrmann. Der Schuppen ist vor einem halben Jahr aufgetaucht, von einem Tag auf den anderen. Beim Grundamt ist die Gemeinde als Besitzer eingetragen. Ehrmann selbst hat keine Idee, was es mit dem Schuppen auf sich hat. Dafür hat er festgestellt, dass seit der Bau 1999 fertig wurde, der finanzielle Wohlstand in Neuenburg spürbar zugenommen hätte. Immer wieder habe er den Bürgermeister und einige Gemeindevorsteher befragt, sie wollten aber nichts dazu sagen. Vor einigen Wochen hätten er und ein Fotograf eine Longitudinal-Beobachtung durchgeführt, dafür haben sie in ihrem Auto Tage und vier Nächte vor dem Holzbau verweilt. „Wir hatten uns extra genug zu essen und zu trinken mitgebracht, weil war ja wussten, dass uns von den Leuten aus dem Dorf niemand was verkaufen würde.“
Ein schneller Satz über den Schwachstromzaun und schon ist man auf der Wiese vor dem Schuppen. Ehrmann geht voraus. „Nicht zu oft umgucken“, empfiehlt er und tut es selbst doch viel zu häufig. Trotzdem hat niemand etwas bemerkt. Die Mittagszeit bietet hier offenbar wirklich die beste Gelegenheit zum Angriff. Die Kleinbildkamera, die Ehrmann auf Hüfthöhe hält, erkennt man nur am mechanischen Klang des Filmrades. „Hier haben die mir damals eins übergebraten“, sagt er hechelnd und setzt trotzdem oder gerade deswegen schnellen Schrittes den Weg zum Schuppen fort. Dort angelangt gilt es zunächst eine Schiebetür zu öffnen, was sich zunächst als schwieriges Hindernis erweist. Ehrmann zieht sein Multifunktionswerkzeug aus seiner Reporterweste und verschmälert dabei seine Augen, als sei er MacGuyver. Tatsächlich gelingt es ihm dann aber auch, die Tür zu öffnen und einen Blick in den Bau zu werfen. Er stößt einen nicht ohne weiteres zu definierenden Laut aus, der nach einer eigenen Observation geradezu schreit. Nichts. In dem Schuppen auf der saftigsten Wiese Neuenburg ist nichts. Wobei „nichts“ auch nicht ganz stimmt, die Weide ist dort so gut gewachsen wie drum herum auch. Hat sich das riskante Manöver nicht gelohnt.
Wenig später, auf der Fahrt nach Saarbrücken zeigt Ehrmann sich frustriert. Ratlos sei er. Obendrein hätte er, noch bis ins Mark schockiert, vergessen, den entscheidenden Anblick –den des Nichts eben- mit der eigens dafür erstandenen Kamera festzuhalten. Die Möglichkeit einer Fotomontage schließt er aus berufsethischen Gründen aus. „Des Scheißding konn misch ma am Asch lecke!“ Das sind vielleicht die feinen Unterschiede zwischen Lokalreporter und einem Autoren mit weiterem Blickwinkel. Ehrmann hat Mängel in der Kombinatorik.
Neuenburg hat 1998 einen saftigen Betrag aus einem EU-Regionalfonds erhalten. In einem Bericht der Wirtschafts- und Strukturkommission aus jenem Jahr ist diese Zahlung als Punkt 245 vermerkt. „Rettungshubschrauber für Gemeindestädte – Ambulanz für die Region“, lautet der dazugehörige Projektname. Für dieses Geld hatten sich seinerzeit der Bürgermeister und der Gemeinderat stark gemacht, entgegen den Empfehlungen der saarländischen Landesregierung. Hintergrund der Kontroverse war ein Streit zwischen der SPD-Landesregierung und dem CDU-Bürgermeister. In Saarbrücken ahnte man wohl bereits, dass ein Rettungshubschrauber nicht gerade zum notwendigsten Inventar der strukturschwachen Region gehörte.
Mit dem Regierungswechsel auf Landesebene geriet jedoch die scharfe Beobachtung der Neuenburger Millionen in den Hintergrund, eine Delegation von EU-Mitarbeitern bekam bei ihrem Besuch im Jahre 1999 lediglich den Rohbau des Holzschuppens zu sehen und das zur Leitzentrale umfunktionierte Büro eines Dorfbewohners. Zufrieden kehrten die spendablen Gäste nach Brüssel zurück, sie hinterließen einen Stapel von Bewertungsbögen, die die Neuenburger regelmäßig ausfüllen und zur Analyse an die entsprechende Abteilung des Regionalfonds schicken sollten.
12,8 Millionen Mark hat Neuenburg für einen Rettungshubschrauber bekommen, den die Gemeinde nie angeschafft hat. Nur ein Bruchteil dieser Summe wurde in zwei neue Notarztwagen investiert, in den verdächtigen Holzschuppen und in eine eigens dafür geschaffene Bürgerwehr. Der Rest, nach unseren Schätzungen etwa 8,5 Millionen Mark dürfte schön säuberlich unter den 4000 Bewohnern aufgeteilt worden sein. Das macht einen Schnitt von 10000 DM pro Neuenburger Familie.
Nur die Beweisführung gestaltet sich in diesem Falle schwierig. Mehrere Anrufe bei zuständigen Stellen der EU wurden nicht beantwortet, von den Neuenburger Provinzbetrüger äußert sich ohnehin keiner und in Saarbrücken will man „mit dieser ganzen Angelegenheit nicht mehr belästigt werden“. Rudolf Ehrmann schrieb seine Reportage über die Auflösung des Rätsels von Neuenburg. Veröffentlicht wurde sie jedoch nicht. Er vermutet, die Liaison der Tochter seines Chefredakteurs mit einem Holzlieferanten aus der Gegend von Neuenburg könnte etwas damit zu tun haben.
Freitag, 13. Februar 2004, 00:37, von herr denes |
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