Faction: Der Propagandist
herr denes, 12:20Uhr
Jeder kennt die auffälligen Typen, die häufig in Fußgängerzonen, auf Märkten oder vor Kaufhäusern zu finden sind. Sie stehen an einem primitiven Stand, packen einen Haufen Konsumgüter in eine Plastiktüte und rufen immer wieder den gleichen Preis aus. "Wenn Sie jetzt denken, das ist ja schon ein tolles Angebot, dann werden Sie gleich staunen. Ich gebe Ihnen noch den extra-saugfähigen Spülschwamm, die flexible Bürste und das Allzweck-Haushaltstuch dazu. Kommt alles in den Sack - für nur 12 €!" Die eigentliche Faszination solcher Verkaufspräsentationen machen die dauergewellten, alten Damen aus, die mit gewohnt skeptischem Blick und kopfschüttelnd das merkantile Treiben der Marktschreier verfolgen, um die Wundertüten dann am Ende tatsächlich zu kaufen.
Mickey ist ebenfalls so ein Propagandist - nur handelt der adrette, blondgefärbte junge Mann nicht mit Haushaltsutensilien, sondern mit einer viel abstrakteren Ware. Die Idee hatte der Absolvent des modischen Studiengangs "Kommunikationsdesign" auf einem Bummel über den Hamburger Fischmarkt, auf dem seit Jahrzehnten Fischer und Händler aus dem gesamten Nordseegebiet allmorgendlich ihre Aale, Schollen und Krabben feilbieten.
Damals suchte Mickey einen Kompagnon für eine eigene Werbeagentur, doch keiner seiner Bekannten traute sich die schwierige Kundenakquisition zu. Er selbst hatte nicht genug Geld für eine eigene Firma, wollte gleichzeitig aber auch nicht von den (ökonomischen) Launen eines Arbeitgebers abhängig sein. Mickey war davon überzeugt, es auch ohne Startkapital schaffen zu können - er müßte nur sein Talent beweisen, eine Information schnell und effektvoll zu verbreiten. Heute, nicht einmal drei Jahre später, hat Mickey das Start-up-Unternehmen für ein neues Ressort in der Werbebranche - und bereits über sechzig Angestellte. FAKTENFIKTION schilderte er, wie es dazu kommen konnte.
FAKTENFIKTION: Sie gelten als Erfinder des "faming". Was bedeutet dieser Ausdruck?
Mickey: Das heißt, ein Gerücht oder eine Neuigkeit in alle Weltgegenden zu verbreiten.
FAKTENFIKTION: Aber das ist doch nichts Neues...
Mickey: Nein, neu ist es natürlich nicht, nur für die Werbebranche war es ein längst fälliger Impuls. Ein neuer Typ von Kampagnen, sozusagen.
FAKTENFIKTION: Damit man sich Ihre Arbeit besser vorstellen kann: Wie sieht Ihre bisher letzte "faming"-Kampagne aus?
Mickey: Die aktuelle Propaganda läuft für ein bekanntes Produkt der Körperhygiene. Darf ich den Namen nennen...?
FAKTENFIKTION: Klar!
Mickey: Also, für "Rocket"-Tampons, die aus Amerika kommen. Die haben so eine Art Startrampe zum Einführen, das ist viel hygienischer.
FAKTENFIKTION: Und dieses Gerücht verbreiten Sie derzeit?
Mickey: Genau, wobei ich ja auch schon viele Mitarbeiter und OLs - Opinion Leader - habe. Meine OL-Kartei umfaßt mittlerweile über 650 Namen.
FAKTENFIKTION: Sie wenden sich also an Meinungsführer, die die Kunde dann weiterverbreiten. Genügt das wirklich schon, um ein Produkt bekannt zu machen?
Mickey: Das läuft ja viel differenzierter. Wenn eine Firma zu uns kommt, fragen wir zunächst nach der Zielgruppe, nach den spezifischen Eigenheiten des Produktes, das bekanntgemacht werden soll, und wann es auf den Markt kommt. Dann lassen wir uns Proben und Prototypen geben, die wir selbst erst einmal durchtesten. All das findet mehrere Monate statt, bevor der Artikel überhaupt auf den Markt kommt.
FAKTENFIKTION: Und dann wird ein Gerücht gestrickt?
Mickey: Genau, das ist das Wichtigste überhaupt. Sonst arbeiten wir ja auch nicht anders als andere Werbeagenturen - die Gerüchte machen die besondere Eigenheit unserer Vorgehensweise aus. Zumal wir in 80 Prozent der Fälle zusätzlich zu einer anderen Werbeagentur beauftragt werden, die sich um konventionelle Aktionen wie TV-Spots und Plakatwerbung kümmert.
FAKTENFIKTION: Welches Gerücht haben Sie denn beispielsweise über die "Rocket"-Tampons verbreitet?
Mickey: Oh, da gab es einige. In Großstadtbezirken verteilten wir an unsere Opinion Leader ganz spezielle Probepackungen, die Tampons mit Parfümierung und in knalligen Farben enthielten; außerdem lösten sich die Artikel nach Gebrauch einfach im Toilettenwasser auf. Ja ja, die Großstädter muß man schon beeindrucken.
FAKTENFIKTION: Das heißt, Sie haben ein höherwertiges Produkt vorgemogelt?
Mickey: Vorgemogelt würde ich das nicht nennen. Wir haben die Leute auf ein insgesamt gutes neues Produkt gestoßen, daß sie sonst links liegenlassen würden. Man muß heutzutage schon übertreiben, um die Aufmerksamkeit des durchschnittlichen Westeuropäers zu wecken - schauen Sie sich doch nur einmal das Fernsehprogramm an.
FAKTENFIKTION: Wir wollen doch nicht zu sehr vom Thema abweichen. Wie haben Sie denn auf dem Lande für die Wunderdinger geworben?
Mickey: Bei den widerspenstigen Pfälzer Bäuerinnen haben wir Mittelsfrauen eingeschleust, die die Damen durch Anspielungen auf ihr Hinterwäldlertum gezielt provozierten. Weiterhin haben wir ein paar kleine Provinzblättchen bestochen, Artikel über die bevorstehende Lösung aller Menstruationsprobleme zu publizieren.
FAKTENFIKTION: Jetzt wird uns schön langsam klar, was Sie mit Propaganda meinen. Welches war denn Ihr erstes Gerücht?
Mickey: Das war mein Plan, bekannt zu werden. Ich lief über den Hamburger Fischmarkt und sah die Schreier. Na, und vorher hatte ich diesen Oldie im Radio gehört, "I Started A Joke" von Burt Bacharach. So reimte...
FAKTENFIKTION: Bee Gees!
Mickey: Bitte?
FAKTENFIKTION: Der Song ist von den Bee Gees, aber egal. Erzählen Sie bitte weiter.
Mickey: Na, ich dachte mir, ich müßte nur den Umstand nutzen, daß ich sehr viele unterschiedliche Leute kenne - und ich wollte versuchen, über dieses Netz irgendeine Information zu verbreiten.
FAKTENFIKTION: Dann war Ihr erstes Gerücht also ein Witz?
Mickey: Das ist richtig!
FAKTENFIKTION: Meinen Sie, ich kenne ihn auch? Ist der Witz von Ihnen?
Mickey: Fast jeder sozial integrierte Mensch müßte ihn vor gut drei Jahren gehört haben. Hier, ich habe ihn aufgeschrieben! (Er zeigt ein laminiertes und bedrucktes Blatt.)
FAKTENFIKTION: Unglaublich! Und der soll von Ihnen sein!?
Mickey: Sonst würde ich heute keine halbe Million im Monat verdienen.
FAKTENFIKTION: Brutto?
Mickey: Netto!
FAKTENFIKTION: Sagen Sie, wollen Sie nicht auch für uns Propaganda machen?
Mickey: Aber klar, wenn Sie sich das leisten können. Mir fällt da auch schon was ein. (Er beugt sich vor und flüstert dem Interviewer etwas ins Ohr.)
Sonntag, 15. Februar 2004, 12:20, von herr denes |
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