Faction: Der Relativierer (2001)
herr denes, 20:28Uhr
Beeindruckend sieht er aus, der Ingenieur in seinem weißen Kittel, wie er ein kleines Teil aus Edelstahl in einer Feinmeßschraube fixiert und dessen Maße in eine technische Konstruktionsskizze einträgt. Er trägt Gummihandschuhe, die aussehen, als hätte er sie gerade einem Verbandskasten entnommen, dabei handelt es sich bei ihnen um eine antistatische Sonderanfertigung. Der Mann mit den grauen Haaren werkelt am Innenleben eines Elektrogeräts; man kann nur ahnen, daß die Platinen und Röhren einmal zu einem Staubsauger gehören werden.
Der Ingenieur heißt Dr. Heinrich Ewald und arbeitet für Deutschlands größten Elektrogerätehersteller, in der Abteilung "Planung und Entwicklung". Küchengeräte, Unterhaltungselektronik, Staubsauger, Kühlschränke, Waschmaschine und was sonst noch einen modernen Haushalt ausmacht, werden in dem roten Backsteinbau in Berlin-Tempelhof konstruiert und zur Herstellung freigegeben. Dr. Ewald ist dabei nur ein Glied in der Kette, sogar ziemlich weit hinten in derselben. Wenn ein neues Gerät von den Elektronikern, Konstrukteuren und Produktdesignern entworfen wurde, landen die dazugehörigen Pläne und Modelle auf dem Tisch von Raum K 023, der sich - die Bezeichnung läßt es schon vermuten - im Untergeschoß des Fabriksgebäudes befindet. Der Raum hat keine Fenster und ist nicht leicht zu finden. Trotzdem gelang es uns, Dr. Ewald dort zu treffen.
FAKTENFIKTION: Warum ist Ihr Büro so versteckt? Haben Sie etwas zu verheimlichen?
Dr. Ewald: In gewisser Hinsicht schon. Die meisten anderen Mitarbeiter unseres Unternehmens sind über meine Tätigkeit nicht im Bilde.
FAKTENFIKTION: Sie sind doch Ingenieur?
Dr. Ewald: Diplom-Ingenieur für Elektrotechnik, um es genau zu sagen.
FAKTENFIKTION: Das ist noch kein Geheimnis.
Dr. Ewald: Vor einigen Jahren hätte ich auch kein Geheimnis aus meiner Arbeit gemacht. Aber auf Dauer hat mich die Arbeit im zweiten Stock angeödet. Dort sitzen diese jungen Hochschulabsolventen und planen den zwanzigsten, immer energiesparenderen, immer geräumigeren und immer gleichen Kühlschrank. Das ist ein Job für Idealisten und eine Tätigkeit, die bald die Künstliche Intelligenz übernehmen wird.
FAKTENFIKTION: Da sitzen Sie lieber im Keller?
Dr. Ewald: O ja, ich habe hier mein Radio, die kleine Palme und ein Foto meiner Familie. Vor allem habe ich hier aber alle Instrumente, die ich für meine Arbeit brauche und sogar einen eigenen Assistenten. Jerzy, tüchtiger Mann. Ist ein Schweißer aus Polen.
FAKTENFIKTION: Sie sprachen gerade von Ihrer Arbeit; was machen Sie hier eigentlich?
Dr. Ewald: Ich bin Relativierer. In meinem Arbeitsvertrag steht zwar "Mitarbeiter der Abschlußprüfung", aber ich mache doch etwas anderes, als die neuen Geräte abzusegnen oder zu testen. Nein, ich bin Relativierer.
FAKTENFIKTION: Was relativieren Sie?
Dr. Ewald: Sehen Sie, auf diese Frage habe ich gewartet. Das ist nämlich meine Legitimation! Ich relativiere den ganzen Fortschritt, der schneller ist als die Evolution. Sie haben keine Ahnung, was heute technisch bereits alles möglich wäre: Roboterherde, die einen Speiseplan für die ganze Woche aufstellen, frisierende Föne und HiFi-Anlagen, die eigene Musikstücke komponieren. Alles toll, aber wo bleibt da der Mensch?
FAKTENFIKTION: Heißt das, Sie entscheiden, ob ein neues Gerät auf den Markt darf?
Dr. Ewald: So weit bin ich leider noch nicht, die Innovationen regulieren andere. Ich modifiziere mehr die Prototypen.
FAKTENFIKTION: Das klingt ja alles recht abstrakt. Was haben Sie denn beispielsweise an diesem Staubsauger da verändert?
Dr. Ewald: Ich habe das Gebläse relativiert. Die Streber im zweiten Stock haben so ein neumodisches Trenngebläse konstruiert, das dafür sorgt, daß weniger feine Staubpartikel, die man ohnehin nicht sieht, in den Staubsaugerbeutel gelangen. Die verschmutzen dafür den Filter und die Umluft.
FAKTENFIKTION: Hört sich für einen Laien ja erst einmal vernünftig an.
Dr. Ewald: Vernünftig ist das nur, wenn man sehr kurz hinschaut. Aber was ist mit den kleinen Unternehmen, die Staubsaugerbeutel fabrizieren ? Da hängen Arbeitsplätze dran.
FAKTENFIKTION: Sie relativieren also im sozialen Auftrag. Aber welches Interesse hat Ihr Unternehmen daran?
Dr. Ewald: Tja, einige Staubsaugermodelle vorher habe ich den Rahmen für die Beutel etwas modifiziert. Mit einer Magnetscheibe. Und die Ersatztüten kann man nur von unserer Firma kaufen. Aber es gibt auch so eine Art Ehrenkodex unter den Staubsaugerproduzenten, daß man die Beutel nicht überflüssig macht. Keiner will den Tütenherstellern den Garaus machen.
FAKTENFIKTION: Beschäftigen Sie sich ausschließlich mit Staubsaugern?
Dr. Ewald: Nein, die letzten drei Wochen war ich mit der neuen Toaster-Serie unserer Firma beschäftigt. Da war einiges richtigzustellen.
FAKTENFIKTION: Was denn zum Beispiel?
Dr. Ewald: Die waren schon sehr ordentlich, einen Prototyp habe ich mir mit nach Hause genommen, und ich kann Ihnen sagen: sehr guten Toast gegessen! Aber eine Krümelschublade aus verchromtem Edelstahl braucht doch kein normaler Endverbraucher. Die sieht man eh die meiste Zeit nicht, und dann geht sie obendrein nie entzwei.
FAKTENFIKTION: Sie haben neue Krümelfächer installiert?
Dr. Ewald: Aus Plastik, die quietschen auch nicht so beim Herausziehen.
FAKTENFIKTION: Lassen Sie mich raten - damit die Kollegen, die einzelne Ersatzfächer bauen, nicht arbeitslos werden.
Dr. Ewald: Ich sehe, Sie haben mich verstanden. Vor einem Monat habe ich einen neuen Fernseher in der Werkstatt gehabt. Das war ein Musterbeispiel für das Mißverständnis unserer Entwickler. Die hätten vierzig Jahre gehalten. Dabei ist es doch die größte Freude des Menschen, zu planen...
FAKTENFIKTION: ...welchen neuen Fernseher er sich kaufen wird. Und - was haben Sie daran verändert?
Dr. Ewald: Da hat mir Jerzy geholfen. Ich hätte ja nur die Platinen mit schwächeren Widerständen bestückt, aber er hat mich erst auf die Idee gebracht, die Gaskonzentration im Inneren der Röhre zu verändern.
FAKTENFIKTION: Neue Lebenserwartung?
Dr. Ewald (strahlt): Ehrlich?
FAKTENFIKTION: Bitte!
Dr. Ewald: Keine sieben Jahre!
FAKTENFIKTION: Ich habe zu Hause auch ein Gerät von Ihrem Unternehmen, eine Stereoanlage, die habe ich mir vor zwei Jahren endlich geleistet. Können Sie mir etwas darüber sagen?
Dr. Ewald: Wenn es die ER 8047 ist, dann...
FAKTENFIKTION: Ja?
Dr. Ewald: Tja, also Kassetten sollten Sie höchstens noch ein Jahr lang über die Anlage laufen lassen, wenn Ihnen etwas daran liegt. Und dann gebe ich Ihnen einen internen Abholschein, mit dem können Sie sich ein paar neue Boxen holen. Am besten die ERS 47, die habe ich nämlich ausgemustert! Ich habe die Dinger nur "die Lebenslänglichen" genannt. Schreckliche Innovation.
FAKTENFIKTION: Was ist Ihre Meinung zum EXPO-Skandal mit Burma? (Wir berichteten über die ewig brennende Glühbirne, die dann doch nicht ausgestellt wurde, weil ein großes deutsches Unternehmen dem Land eine Bestechungssumme zahlte; Anm. der Red.)
Dr. Ewald: Da sieht man, was passiert, wenn es keinen zwischengeschalteten Relativierer gibt!
FAKTENFIKTION: Gestatten Sie mir noch eine Frage: Haben Sie viele Freunde?
Dr. Ewald: Relativ wenige.
Montag, 16. Februar 2004, 20:28, von herr denes |
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