Faction: Seltsame Stadt, Teil 1 (2002)
herr denes, 23:58Uhr
Auf einer breiten Kreuzung überquert ein Fußgänger eine Straße. Als er etwas über die Hälfte des Weges zurückgelegt hat, schaltet seine Ampel auf rot. Der junge Mann zuckt daraufhin zusammen und verdreifacht seine Schrittfrequenz, um die rettende andere Straßenseite zu erreichen. Als ob sein Rennen überlebenswichtig gewesen wäre, lehnt er sich danach an eine Litfasssäule und wischt seinen Schweiß von der Stirn.
Im U-Bahnhof ertönt der Ruf „Zurückbleiben“ als eine gut gekleidete Frau die letzten Schritte auf den Zug zugeht. Das audiovisuelle Warnsignal begleitet das Schließen der Türen vor ihren Augen. Aus den Fenstern des Zuges kann man erkennen, wie die Frau anfängt zu weinen und sich die Hände vor das Gesicht hält. In den anfahrenden Waggons scheint kein Fahrgast über den Zusammenbruch der zu spät Gekommenen überrascht.
Am Bankautomat steht ein souveräner Herr mit Schnauzbart und steckt seine Karte in das Gerät. Er schaut sich nach links um, als er zur Eingabe der Geheimzahl aufgefordert wird und nach rechts, bevor er auf die grüne Taste drückt. Nachdem er das Geld in den Händen hat, zählt er es mehrmals und schüttelt dabei mit dem Kopf. Seine Zählungen kommen nie zum Abschluss, weil er sich nach sieben vom Daumen und Zeigefinger registrierten Noten wieder umschaut.
Beim Spaziergang im Park unterhalten sich zwei Mädchen, während sie einem Hund Auslauf gewähren. Obwohl sie beide zischend flüstern, ermahnen sie sich im Minutentakt zu leiseren Stimmen. „Sie doch nicht so laut“ oder „Du musst nicht schreien“ sagen sie mit aggressiven Stimmen. Der Hund darf den lockenden Rasen nicht betreten, das wird ihm mit einem unmissverständlichen Zug am Lederhalsband mitgeteilt.
Eine deutsche Großstadt im Dezember, es ist ein Mittwoch Vormittag und Menschen, die zu dieser Zeit nicht arbeiten oder schlafen, verkehren in der Innenstadt. Um neun Uhr morgens am gleichen Tag fuhr eine Kolonne von Betonmischlastwagen durch verschiedene Stadtteile. Aus den LKW strömte ein bläuliches Gas, das auf den befahrenen Straßen erst nach wenigen Minuten durch einen nussähnlichen Geruch auffiel. Zwischen neun und zehn Uhr befuhren alleine drei verschieden nummerierte Laster die Weglerstraße, einer davon tat dies sogar zweimal. Die Betonmischlastwagen waren grün lackiert und trugen die Aufschrift der Firma „Lorenz“. Nach zehn Uhr war keines der Fahrzeuge mehr zu sehen.
Das merkwürdige Verhalten der Menschen war ab etwa 9.45 Uhr zu beobachten. So berichtete die Rentnerin Renate Glücklich einem lokalen Berichterstatter, dass sie sich in der Straßenbahn über einen jungen Mann gewundert hätte, der seine verdreckten Fingernägel zunächst mit der jeweils anderen Hand angerissen und dann „mit den Schneidezähnen weitläufig abgerissen hätte bis es blutete.“ Frau Glücklich selbst rieb während des Interviews eine entzündete Wunde auf ihrem Kinn mit dem gebogenen Daumen ihrer rechten Hand, ohne zu bemerken, dass dieser bereits blutüberstömt war.
An der Imbissbude „Wilhelms Würste“ steht ein Pullunderträger mit Hornbrille und schminkt seine Wangen geduldig mit Currysauce. Die zunehmend nackter werdende Wurst auf seinem Papptablett rührt er dabei nicht einmal mit den Augen an. Zwei pubertierende, picklige Mädchen stehen ihm gegenüber, lachen ihn aus und wirken dabei als einzige Teilnehmer der Szene realistisch. Wurstmann Wilhelm dagegen steht im Budeninneren hinter seinem Tresen und beult mit einem schweren Hammer ein ramponiertes Parkverbotsschild aus.
In der Boutique „BeauTick“ hängt der Telefonhörer an der Strippe vom gläsernen Einpacktisch neben der Kasse und über den Lautsprecher des eben dort stehenden Telefons ertönt das Besetztzeichen. Dabei ist zu bemerken, dass die im Halbsekundentakt wiederholten Töne unterschiedliche Lautstärken haben. Es ist nicht festzustellen, ob das an der Verbindung oder an einem möglichen Defekt des Lautsprechers liegt.
An der Abfahrtsstelle der Standseilbahn zum Kriegsdenkmal auf dem städtischen Hügel hat sich eine lange Schlange gebildet. Mehrere Asiaten scheinen sich dort zu streiten und zeigen dabei auf Abbildungen in unterschiedlichen Reiseführern. Während des Gesprächs öffnet einer von ihnen seinen Fotoapparat und zieht den Film heraus. Anschließend zieht er das Band mit den bereits entstandenen Belichtungen aus der Kapsel und wickelt es um den Hals seines Gesprächspartners. Im nächsten Moment hat der derart umwickelte den nur wenige Schritte entfernt gelegenen Passfotoautomaten mit der leuchtenden Aufschrift „Pixi“ entdeckt und bewegt sich hastig dort hin. Nach einigen Minuten kehrt er mit kleinformatigen Aufnahmen des zum Streitpunkt gewordenen Bildes in seinem Reiseführer zurück. Über dem Geschehen kreist ein Zeppelin mit Lichtbotschaft: „Mein [dann folgt der Name der Stadt], ist es nicht schön hier?“ Momentan kann man diese Frage nicht uneingeschränkt bejahen.
Ein Anruf bei der Firma „Lorenz Nutzfahrzeuge und Baustellenbedarf“ ergibt, dass sämtliche 14 Betonmix-Lastkraftwagen, wie die Frau am Telefon sagt, für diesen Tag von der Stadtverwaltung angemietet wurden. Zweck und Bestimmung seien ihr unbekannt. Die Frau fügt hinzu, dass nach den ihr vorliegenden Informationen alle Maschinen bis um 16.30 Uhr „wieder auf dem Hof sein sollen“. Etwas Besonderes aufgefallen sei ihr an diesem Vormittag nicht, sagt sie. Allerdings hätte ihre Schwester aus dem Kindergarten, in sie arbeitet angerufen, um ihr zu erzählen, dass gegen 10.15 Uhr ein offenbar Geistesgestörter zweimal kurz hintereinander bei ihnen nach einer Schere und Klebstoff gefragt hätte.
Es ist mittlerweile 14.00 Uhr und die Polizei hat zu einer außerordentlichen Pressekonferenz geladen, der Versammlungsraum im Präsidium ist gut gefüllt. Die anwesenden Journalisten wirken ratlos, als sie unter lautem Getuschel auf das Eintreffen des Pressesprechers warten. Eine Reporterin der Landesredaktion einer überregionalen Tageszeitung ist erst vor wenigen Minuten in der Stadt eingetroffen und erkundigt sich bei einem ihr bekannten Kollegen des städtischen Blattes nach dem „Was-ist-hier-eigentlich-los“. Er aber muss ihr die genaue Antwort schuldig bleiben, ein zufällig mithörender Journalist eines privaten Fernsehsenders schaltet sich ungefragt ein: „Die Leute sind seit heute morgen völlig am Austicken!“ Auf die Frage, von welchen Leute er spreche, kann der schlecht frisierte Fernsehmann nicht mehr antworten, denn in diesem Augenblick tritt der Polizei-Pressesprecher in Begleitung des Innensenators der Stadt die provisorisch ausgeleuchtete Bühne des Versammlungsraumes. „Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie-“, beginnt er und wird von einem jähen Feedback der Lautsprecheranlage unterbrochen. Nach einem hastigen Drehen am Mikrophon wiederholt er seine ersten 7 Wörter und fügt ein „herzliches Dankeschön für das schnelle und zahlreiche Erscheinen“ hinzu. Ein Diaprojektor wirft gleichzeitig das unscharfe Bild einer Müllkippe an die Leinwand im rechten Teil der Bühne. Als der Assistent die Schärfe korrigiert, erkennt man einen brennenden Leichnam vor der Abfallhalde.
Ende 1.Teil
Sonntag, 22. Februar 2004, 23:58, von herr denes |
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